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Stiefkinder der Sonne

Stiefkinder der Sonne

Titel: Stiefkinder der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund Cooper
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Handvoll Patronen gab. Außerdem gab er ihr eine Taschenlampe.
    „Da drinnen ist es sicher dunkel“, sagte er. „Benutze aber die Taschenlampe trotzdem nicht mehr als unbedingt nötig. Trockenbatterien, die noch funktionieren, sind heutzutage schwer zu finden.“
    Die Festival Hall sah aus wie eine große, verlassene Scheune. Überall lagen Massen von Glasscherben. Als sie durch den Haupteingang kamen, ließen sie das helle Licht der Morgensonne hinter sich und kamen in ein undurchdringliches Zwielicht, als seien sie in einer Leichenhalle. Der bleistiftdünne Strahl der Taschenlampe beleuchtete eine gottverlassene Szene. Ein Großteil der Holztäfelung war herausgerissen worden – wahrscheinlich als Brennstoff, und selbst das Geländer der Haupttreppe war in Stücke gehackt worden.
    Liz war entschlossen, sich von der Zerstörung nicht bedrücken zu lassen, und summte eine Melodie vor sich hin. Sie ging vor ihm die Treppe hoch und zögerte nur kurz, als sie über ein sauber abgefressenes Skelett steigen mußte, das noch immer die zerfetzten Reste eines buntbedruckten Kleids wie ein grotesk lustiges Totenhemd trug.
    „Ratten“, sagte Greville, als der Schein der Taschenlampe kurz bei dem erbärmlichen Knochenhaufen stockte.
    „Wo?“ fragte Liz ängstlich.
    „Ich meine nicht hier und jetzt. Aber das ist das Werk von Ratten. Hunde hätten die Knochen zerbissen. Die Art Katzen, die überlebt haben, auch … Komm, gehen wir wieder raus. Der Ort hier deprimiert mich zu sehr.“
    „Ich will die Halle sehen“, protestierte Liz. „Ich will den Platz sehen, wo Georgie Sniffles seinen Flügel stehen hatte, und ich will mir all die Leute vorstellen – die fetten alten Damen, die Männer im Frack, die Jungen in braunem Cord und all die Mädchen in Seide und mit Spitzen, die wie eine Million Heuschrecken geraschelt haben.“
    „Wenn du etwas rascheln hörst“, sagte Greville, „dann schieß zuerst und träume dann. Ratten haben keinen Sinn für Nostalgie.“
    Schließlich ertasteten sie sich den Weg in das Auditorium, ein Keller, so schwarz und still, daß man den Eindruck bekam, als hätte kein Geräusch – und Musik schon gar nicht – seit tausend Jahren seinen Schlummer gestört. Merkwürdigerweise war hier nicht viel beschädigt.
    Hier und da waren Sitze aufgeschlitzt oder von Klauen zerfetzt worden, und über allem hing ein Modergestank, aber abgesehen von Spinnweben und Schimmel war die Struktur der Halle noch intakt.
    Liz leuchtete mit der Lampe auf die Bühne – und stieß einen leisen Schrei des Erstaunens aus; die letzte Vorstellung nämlich, die in der Festival Hall je gegeben wurde, war das Ballett zur Nußknacker-Suite gewesen. Die hintere Kulisse war zwar ausgefranst und voller Löcher, hing aber wie durch ein Wunder noch. Riesige russische Kiefern ragten verblaßt, aber noch voller Zauber in dem Kristallwald auf, den Tschaikowsky erträumt hatte. Einige Reste von Papierschnee – oder von Ratten zerkaute Reste – lagen achtlos auf den nackten Brettern; und einen Augenblick lang schien es, als würden gleich die Scheinwerfer aufflammen, die Musik einsetzen und die strahlende Gestalt der Schneekönigin elegant hinter den schwarzen Samtvorhängen herausschweben.
    „Oh! Ist das nicht einfach wunderbar?“ meinte Liz atemlos. „Man kann es fast spüren – nach all den schrecklichen Jahren.“
    Plötzlich ließ sie die Taschenlampe fallen und fing an zu schluchzen.
    „Komm“, sagte Greville mit absichtlich rauher Stimme. „Du hast genug gesehen. Wir machen, daß wir hier herauskommen.“
    Er hob die Taschenlampe auf und führte die noch immer schluchzende Liz von den Kiefern und dem rührenden und dauerhaften Schnee weg. Als sie die Treppen hinuntergingen, fragte er sich, ob das Skelett, das dort so erbärmlich unter seiner Decke aus bedruckter Baumwolle lag, auch Tschaikowskys Kiefern und den Papierschnee gesehen hatte, bevor die Ratten gekommen waren. Vielleicht hatte das arme kleine Skelett sogar auf genau dieser Bühne getanzt. Vielleicht war es einst eine Primaballerina gewesen. Vielleicht … Er unterbrach seine Gedanken, bevor sie sich weiterentwickeln konnten. Er wollte von der Vergangenheit nichts mehr wissen. Alles, was er wollte – und was Liz wollte –, war der goldene Sonnenschein.
    Als sie wieder in eben diesen Sonnenschein hinaustraten, kam ihnen der Sommermorgen unglaublich süß vor. Sie konnten nicht mehr als zehn Minuten in der Festival Hall gewesen sein, aber Greville war es

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