Stiefkinder der Sonne
nach Ambergreave.
Sie kamen erst sehr spät nach Hause, aber Liz bestand darauf, alle neuen Kleider anzuprobieren, um seinen Kommentar zu hören, bevor sie sich hinlegten. Greville war müde, nervös und deprimiert als Reaktion auf die Begegnung am Nachmittag. Sie würden nicht immer das Glück auf ihrer Seite haben. Früher oder später würden auch sie am anderen Ende sitzen. Er bemerkte überrascht, daß er sich über seinen eigenen Tod Gedanken machen konnte, die Vorstellung aber nicht ertragen konnte, Liz tot zu wissen.
„Ich hoffe, daß die Kleider dir gefallen“, sagte er brutal. „Ich hoffe, sie passen dir. Kleider werden heutzutage immer teurer. Diese dort haben zwölf Menschenleben gekostet.“
„Nichts ist jemals den Preis wert“, sagte Liz ruhig, „aber er muß immer bezahlt werden … Komm, gehen wir ins Bett. Das hat schließlich auch seinen Preis, nicht wahr?“
Greville gab ihr keine Antwort. Er wollte sie in die Arme nehmen, aber das Wissen, daß er mit jedem Tag mehr zu verlieren hatte, ließ ihm das Blut gefrieren.
17
In dieser Nacht kam zum erstenmal echter, dichter Herbstnebel, wie Greville später in seinem Tagebuch vermerkte. Es war eine Nacht, um am offenen Feuer zu sitzen, zu lesen, sich zu unterhalten, Musik zu hören, zu nähen, unmögliche Pläne zu machen und diese Pläne in einem tiefen und herrlich warmen Meer von Schlaf aufzulösen. Im Verlauf der Nacht machten Liz und Greville all diese Dinge mit einer stillen Zufriedenheit, die man schon fast Glück hätte nennen können. Und in dieser Nacht begann das, was von dem Dorf Ambergreave noch übrig war, zu sterben – gewalttätig und auf eine Art, die selbst in der Welt der Transnormalität noch bizarr war.
Greville besaß drei Uhren, aber keinerlei Verlangen, die richtige Zeit herauszufinden. Die erste Uhr zeigte immer eine Stunde mehr an als die zweite, und die dritte eine Stunde mehr als die erste. Wenn eine stehenblieb, konnte sie immer nach den anderen gestellt werden, und das gleiche traf zu, wenn eine von ihnen falsch ging. So hatte er seiner Meinung nach einen willkürlichen Standard, der aufrechterhalten wurde – und außerdem war es möglich, das Konzept Zeit den persönlichen Wünschen anzupassen. Wenn er spät aufstand, brauchte er nur auf die richtige Uhr zu sehen und konnte die Illusion hegen, er sei früh aufgestanden. Wenn ihm danach zumute war, früh schlafen zu gehen, konnte er sich bei der passenden Uhr davon überzeugen, daß es Zeit dazu war. Eigentlich hatte er schon lange das Interesse an jener Art von Zeit verloren, wie sie die Uhren zeigten; trotzdem wollte er sich das Gefühl erhalten, daß sie zu seiner Verfügung stand, wenn er sie brauchte. Daher gab er sich Mühe, die Uhren regelmäßig aufzuziehen. Dies war ein privater Witz, den Liz nie verstehen konnte.
Uhr Nummer drei (Greville war heute in der Stimmung, früh ins Bett zu gehen) schlug gerade Mitternacht, als die Schießerei begann. Greville starrte Liz an; Liz starrte Greville an. Sie machten sich nicht sonderlich Gedanken – sie waren nur interessiert, da die Schießerei offensichtlich weit entfernt war. Außerdem waren sie ja sowieso durch mehr als hundert Yards Wasser von allem getrennt. Wenn jemand sie angreifen wollte, mußte er erst einmal ein Boot finden.
„Was ist denn da los, zum Teufel?“ fragte Liz ohne viel Interesse, während sie versuchte, eine Nadel einzufädeln, weil sie an ihrem Hemd einen Knopf annähen wollte.
„Hunde“, sagte Greville. „Eventuell auch Ratten, aber Hunde sind wahrscheinlicher. Der Nebel hat sie wahrscheinlich in das Dorf gelockt. Die sind auf leichte Beute aus. Sie brauchen nicht soviel Sicht wie die Menschen.“
Liz schüttelte sich, denn sie dachte an ihre eigene Begegnung mit Hunden auf der Chelsea-Brücke. „Ich hoffe nur, daß sie unangenehm überrascht werden. Es ist schon schlimm genug, wenn man von Hunden aufgefressen wird, aber in dieser Waschküche von Hunden aufgefressen zu werden, das ist wirklich das allerletzte.“
Greville lachte. „Die Gedanken von Frauen werden mich wohl immer verblüffen. Wenn man schon stirbt, was macht es da noch aus, ob man im Sommer oder im Winter, in der Sonne oder im Nebel stirbt?“
„Eine ganze Menge“, meinte Liz. „Wenn ich sterbe, dann will ich doch mit meinem letzten Blick noch etwas wirklich Sehenswertes sehen … Wir müssen uns bald wieder auf Plünderfahrt begeben. Ich habe nur drei Arbeitshemden, und die fallen alle in
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