Stigma
hätte. Er war am Leben, wenn auch mit Einbußen. Aber oft holten ihn Momente wie dieser ein, in denen er sich wünschte, er wäre ebenfalls in diesem Keller gestorben. Den anderen Opfern gegenüber war es sicher nicht fair, so zu denken, doch gelegentlich verfiel er dem Glauben, sie hätten mehr Glück gehabt, weil sie diese schrecklichen Erlebnisse nicht verarbeiten und damit weiterleben mussten. In der ständigen Angst, es könnte wieder geschehen. Und trotzdem wurde er von der Vorstellung getrieben, er wäre es ihnen schuldig, es wenigstens zu versuchen. Vielleicht war das Schreiben ja tatsächlich ein Ventil für ihn, durch das er ihre Geschichten erzählte, um so dem Ganzen einen Sinn zu geben. Nur in seiner Fantasie konnte er sich seine eigene Welt schaffen, eine Welt, die er kontrollieren konnte und in der nichts Unvorhergesehenes geschah.
Seine Finger entspannten sich wieder, und der Hass versiegte so schnell, wie er gekommen war. Und plötzlich wünschte er sich nur noch, dass die Ereignisse der letzten Tage, die ihn aus seiner Routine gerissen hatten, niemals stattgefunden hätten. Alles war besser, als sich selbst zu entgleiten und nicht mehr zu wissen, wer man eigentlich war. Es gab genug, wofür es sich zu kämpfen lohnte, und keine Angst dieser Welt war es wert, das alles aufs Spiel zu setzen.
Angst ist etwas ganz Natürliches, erinnerte er sich an Dr. Westphals Worte. Man kann lernen, mit ihr zu leben.
Das war immerhin besser, als sich von ihr auffressen zu lassen.
Die ehemalige Werkstatt seines Großvaters war durch eine Trennwand in zwei separate Räume unterteilt worden. Der Bereich, der später einmal als Küche dienen sollte, befand sich auf der linken Seite. Im Moment standen dort jedoch nur eine Waschmaschine und ein Trockner, der durch ein rotes Blinklicht anzeigte, dass das Programm abgelaufen war. Direkt daneben stand die Kühltruhe. Sie war der einzig verbliebene Gegenstand hier unten, der Tom Unbehagen bereitete. Als er sie betrachtete, lief ihm sogleich ein kalter Schauer über den Rücken, und den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte er tatsächlich, einen kleinen Fuß über deren Rand ragen zu sehen. Sofort schloss er die Augen, um dieses Trugbild zu löschen.
Reiß dich zusammen, kämpf dagegen an!
Seine Knie begannen zu zittern, und er spürte, wie ihm der Schweiß aus den Poren schoss.
Es ist nicht real, es ist nur eine dunkle Erinnerung.
Langsam öffnete er wieder die Augen. Der Fuß war verschwunden. Nur das leise Summen der Kühlung drang aus der Truhe. Vorsichtig öffnete er den Deckel. Keine Leiche, kein gefrorener Körper. Nur die übliche Tiefkühlkost einer ganz normalen Familie. Und obwohl er im Grunde nichts anderes erwartet hatte, stieß er einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.
Nachdem Tom die Lebensmittel verstaut hatte, kehrte er in die Garage zurück und stellte den leeren Korb wieder hinten in den Wagen. Als er die Heckklappe schloss, traf ihn ein Schock, so unverhofft, dass er ihn wie eine Lawine überrollte. Jäh starrte er in zwei blaue Augen, die ihn reglos betrachteten.
Ein erstickter Schrei entwich Toms Kehle, während er einige Schritte zurücktaumelte, bis er das Gleichgewicht verlor und rücklings über einen Reifenstapel stolperte. Es gelang ihm, sich an einem der Regale an der Wand festzuhalten, bevor er unsanft auf dem harten Betonboden aufschlug. Eine Dose mit Farbresten fiel von dem Regal und rollte blechern an ihm vorüber. Noch immer wie paralysiert, starrte er auf die Gestalt, die aus dem Halbdunkel der Garage trat und sich drohend über ihn beugte.
»Buh!«, sagte eine wohlvertraute Stimme, bevor sie in schallendes Gelächter überging.
Die Panik in Toms Gesicht wich augenblicklich Erleichterung, um sich gleich darauf in Wut zu verwandeln.
»Stefan, du verdammter Drecksack!«
»Sorry, Alter«, prustete Fanta, dem es sichtlich schwerfiel, seinen Lachanfall unter Kontrolle zu bringen, »aber dich zu erschrecken ist immer wieder einen Anschiss wert.« Er schlug sich auf die Schenkel. »Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, quietschte er und äffte ihn nach.
»Ja, wahnsinnig komisch«, knurrte Tom.
»Tut mir echt leid, Mann, aber ich konnte einfach nicht anders.« Fanta streckte die Hand aus und half ihm auf die Beine. »Ich hoffe, du hast dir nichts getan.«
»Nein«, sagte Tom und rieb sich das Bein. »Die Schmerzen hatte ich vorher schon.«
»Wieder die alte Geschichte, was?«
»Ja, die alte Geschichte«, grollte Tom. »Was
Weitere Kostenlose Bücher