Stigma
Ursprung all deiner Ängste. Damals wie heute. Du musst endlich lernen, dass du es bist, der dein Leben beeinflusst, und nicht umgekehrt.«
»Ganz so einfach ist das nicht.«
»Doch, Tom, ist es. Es gibt Eltern, die ihr Kind verlieren und an dem Verlust zerbrechen. Sie geben sich auf, anstatt nach vorn zu sehen. Ich will nicht, dass es dir genauso geht. Sicher, du hast etwas Schreckliches erlebt. Aber das liegt lange zurück, und ich finde, es ist verdammt noch mal an der Zeit, mit deiner Vergangenheit abzuschließen. Wach endlich auf, Tom, und stell dich deinen Dämonen, sonst wirst du ewig ein Gefangener in dir selbst bleiben.«
»Jetzt klingst du auch schon wie meine Analytikerin«, brummte Tom verächtlich.
»Vermutlich weil sie recht damit hat.«
Er sah verstohlen auf seine Hände hinab. »Tja, ganz offensichtlich steht ihr beide mit dieser Ansicht nicht allein da, denn so wie es aussieht, ist noch jemand ziemlich versessen darauf, dass ich mich meiner Vergangenheit stelle. Und anscheinend ist ihm dabei jedes Mittel recht.«
»Du sprichst von dem toten Mädchen, nicht wahr? Karin hat mir davon erzählt. Hat sich denn schon etwas Neues ergeben?«
Tom schüttelte den Kopf. »Aber ich war vorhin da, wo man sie gefunden hat. Ich weiß auch nicht, was mich dorthin getrieben hat. Normalerweise hätte ich das nie getan, aber es war fast so, als … als hätte mich jemand dorthin geführt. Ich kann es nicht anders beschreiben.«
»Was hast du dabei empfunden?«
»Keine Ahnung. Eine Art Bedrohung. Aber auch ein Prickeln. Ein bisschen von beidem, schätze ich. Aber erstaunlicherweise keinerlei Angst. Ich stand an diesem Zaun – verstehst du, an einem Zaun –, aber ich habe keine Angst gehabt. Fast so, als wäre ich nicht ich selbst, als würde ich neben mir stehen und mich beobachten. Und dann, auf diesem Grundstück …«
»Was?«, drängte Fanta.
»Es kam mir seltsam fremd vor, aber gleichzeitig auch vertraut. Ich bin mir absolut sicher, dass ich das Gelände nicht kenne, aber trotzdem war es, als käme ich zurück an einen dunklen, vertrauten Ort. Und dann sind plötzlich Bilder vor mir aufgetaucht. Ich bin wieder durch diesen Garten gegangen, genau wie damals. Und ich schwöre dir, ich konnte sogar die Rosensträucher riechen.«
»Erstaunlich, was in unserem Unterbewusstsein so alles hängenbleibt«, bemerkte Fanta.
»Ja, aber es war mehr als das. Ich habe diesen Ausschnitt quasi von Neuem durchlebt. Alles erschien so real, als könnte ich es anfassen.«
»Trotzdem war es nur eine Erinnerung. Und dieses Grundstück war der Auslöser. Dein Unterbewusstsein hat lediglich eine Assoziation zu dem hergestellt, was dir in deiner Kindheit passiert ist. Ich glaube, man nennt so etwas Flashback.«
»Du scheinst ja erstaunlich viel darüber zu wissen.«
»Na ja, ich lese deine Bücher.« Er grinste verschmitzt.
»Wahrscheinlich tut der Kerl, der mir diese Botschaft geschickt hat, das auch. Jedenfalls scheint er sich auf diesem Gebiet bestens auszukennen. Ich glaube, er will mich um jeden Preis in den Wahnsinn treiben, und nur Gott weiß, warum. Das Schlimme daran ist, es könnte ihm sogar gelingen.«
»Und warum glaubst du das?«, erkundigte sich Fanta hellhörig.
»Weil ich …«, setzte Tom an und hielt kurz inne. Wieder sah er auf seine Hände hinab. »Ich habe in letzter Zeit immer häufiger das Gefühl, als wäre ich nicht ganz Herr meiner selbst. Und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, wie ich das deuten soll.«
»Hast du denn nicht mit deiner Therapeutin darüber gesprochen? Wie hieß sie doch gleich?«
»Dr. Westphal. Nein, noch nicht. Aber ich habe da so meine eigene Theorie.«
»Und die wäre?«
»Na ja, du kennst ja meine Bücher. Sie behandeln alle ähnliche Themen, was meine Kritiker mir auch immer wieder gerne vorwerfen. Trotzdem ist nicht alles an diesen Geschichten frei erfunden. Die medizinischen Fakten beruhen alle auf Tatsachen.«
»Das macht deine Bücher wohl so authentisch«, bemerkte Fanta.
»Mag sein«, erwiderte Tom. »Aber was mich angeht, werden diese Geschichten langsam etwas zu realistisch.«
Einen Augenblick lang betrachtete sein Freund ihn amüsiert. Dann wurde sein Gesichtsausdruck ernster. »Du versuchst mir hier doch nicht etwa zu erzählen, dass deine Geschichten plötzlich ein Eigenleben entwickeln und sich auf dich projizieren?«
»Ich weiß, es klingt vielleicht verrückt«, gab Tom zu, »aber … ja, im Grunde kommt es mir tatsächlich so vor.«
In
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