Stille Nacht
daß
Jimmys Angebot, sich zu stellen, ernst gemeint war, dachte
Mort. Irgendwie kam ihm keine der beiden Möglichkeiten so
recht überzeugend vor - Mexiko nicht, und genausowenig die
Kapitulation. Ob diese Paige wohl gerissen genug war, ihre
Freund in anzulügen, für den Fall, daß die Cops auftauchten und
sich nach ihr erkundigten?
Soeben wurden der Kaffee und die Sandwiches gebracht, die
sie bestellt hatten. Mort ging hinüber, um sein Roggenbrot mit
Schinken zu holen. Zwei der weiblichen Polizeibeamten
unterhielten sich miteinander.
Er hörte, wie eine der beiden, Lori Martini, sagte: »Immer
noch kein Lebenszeichen von diesem vermißten Jungen. Den hat
garantiert irgend so ein Verrückter aufgegriffen.«
»Was für ein vermißter Junge?« fragte Levy.
Ernst ließ er sich die Einzelheiten berichten. Es war einer
jener besonderen Fälle, die keiner in der ganzen Polizeibehörde
bearbeiten konnte, ohne emotional Anteil zu nehmen. Mort hatte
einen siebenjährigen Sohn. Er wußte, was dieser Mutter durch
den Kopf gehen mußte. Und der Vater so krank, daß man ihn
nicht mal darüber informiert hatte, daß sein Sohn vermißt war.
Und all das zur Weihnachtszeit. Mein Gott, manche Leute trifft
es wirklich knüppeldick, dachte er bei sich.
»Anruf für Sie, Mort«, brüllte eine Stimme durch das
Zimmer.
Mit seinem Kaffee und dem Sandwich in der Hand kehrte
Mort an seinen Schreibtisch zurück. »Wer ist dran?« fragte er,
als er den Hörer in die Hand nahm.
»Eine Frau. Sie hat ihren Namen nicht genannt.«
Während Mort sich den Hörer ans Ohr legte, sagte er:
»Detective Levy.«
Er vernahm das Geräusch angstvollen Atmens. Und dann ein
schwaches Klicken, als die Leitung unterbrochen wurde.
WCBS-Reporter Alan Graham kam auf den Streifenwagen zu,
in dem er Catherine Dornan eine Stunde vorher befragt hatte, als
er über den letzten Stand der Dinge berichtete.
Es war halb neun, und das periodische Schneegestöber hatte
sich wieder in ein gleichmäßiges Treiben großer weißer Flocken
verwandelt.
Über seinen Ohrhörer vernahm Graham, wie der Moderator
das Neueste über den entflohenen Strafgefangenen berichtete.
»Der Zustand von Mario Bonardi, dem verwundeten
Gefängniswärter, ist noch äußerst ernst. Bürgermeister Giuliani
und Polizeichef Bratton haben zum zweitenmal dem
Krankenhaus einen Besuch abgestattet, wo er nach einer heiklen
Operation auf der Intensivstation liegt. Letzte Berichte lassen
darauf schließen, daß die Polizei einem Hinweis nachgeht,
demzufolge der Täter, der des Mordes verdächtige Jimmy
Siddons, sich möglicherweise mit einer Freundin in Kalifornien
trifft, um von dort aus Mexiko zu erreichen. Der Grenzschutz in
Tijuana ist alarmiert worden.«
Einer der Journalisten hatte den Tip erhalten, daß Jimmys
Anwalt behauptete, Siddons wolle sich nach der Christmette in
St. Patrick’s der Polizei stellen. Alan Graham war froh, daß man
entschieden hatte, diese Geschichte nicht im Radio zu bringen.
Keiner der Verantwortlichen bei der Polizei schenkte ihr
wirklich Glauben, und sie wollten die Kirchenbesucher nicht
durch das Gerücht aufschrecken.
Jetzt gab es nur noch wenige Fußgänger auf der Fifth Avenue.
Graham kam in den Sinn, daß es fast etwas Obszönes an sich
hatte, welche Hauptnachrichten sie ausgerechnet heute, am
Heiligabend, brachten: Da waren ein entflohener
Polizistenmörder; ein Gefängniswärter, der um sein Leben rang;
ein vermißter siebenjähriger Junge, bei dem man nun annehmen
mußte, daß er das Opfer einer Straftat war.
Er klopfte an das Seitenfenster des Streifenwagens. Catherine
blickte hoch und kurbelte das Fenster halb herunter. Als er sie
ansah, fragte er sich, wie lange sie wohl noch in der Lage wäre,
ihre bemerkenswerte Fassung zu wahren. Sie saß auf dem
Beifahrersitz neben Officer Ortiz. Auf dem Rücksitz saß ihr
Sohn Michael, zusammen mit einer gutaussehenden älteren
Frau, die den Arm um ihn gelegt hatte.
Catherine beantwortete seine Frage, bevor er sie aussprechen
konnte: »Ich warte noch«, erklärte sie leise. »Officer Ortiz ist so
freundlich, die ganze Zeit bei mir zu bleiben. Ich weiß nicht,
wieso, aber ich hab das Gefühl, als ob ich Brian irgendwie
genau hier finde.« Sie wandte sich ein wenig zur Seite. »Mom,
das ist Alan Graham vom WCBS. Er hat ein Interview mit mir
gemacht, gleich nachdem ich mit dir gesprochen hatte.«
Barbara Cavanaugh sah die Anteilnahme in der Miene des
jungen Reporters. Obwohl ihr
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