Stille Nacht
bewußt war, daß sie es schon
erfahren hätten, falls es etwas Neues gäbe, konnte sie sich doch
der Frage nicht enthalten: »Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Nein, Ma’am. Wir haben jede Menge Anrufe im Sender
bekommen, aber die galten alle dem Ausdruck des Mitgefühls.«
»Er ist verschwunden«, sagte Catherine mit tonloser Stimme.
»Obwohl Tom und ich die Jungs dazu erzogen haben,
grundsätzlich anderen Menschen zu vertrauen, so wissen sie
doch, wie sie sich im Notfall verhalten müssen. Brian wußte,
daß er sich an einen Polizisten wenden muß, falls er sich
verlaufen hat. Er kannte die Notrufnummer. Jemand hat ihn
verschleppt. Wer würde denn einen Siebenjährigen ergreifen
und festhalten, wenn nicht…?«
»Catherine, mein Liebes, quäl dich doch nicht so«, sagte ihre
Mutter eindringlich. »Alle, die dich im Radio gehört haben,
beten für Brian. Du mußt Vertrauen haben.«
Catherine spürte, wie Frustration und Zorn in ihr aufstiegen.
Ja, sicher sollte sie wohl »Vertrauen« haben. Ganz ohne Zweifel
hatte Brian Vertrauen - er glaubte an diese ChristophorusMedaille, vermutlich genug, um dieser Person zu folgen, die
mein Portemonnaie eingesteckt hat. Er wußte, daß die Medaille
darin war, nahm sie an, und fand daher, daß er sie zurückholen
mußte. Sie schaute nach hinten zu ihrer Mutter und auf Michael,
der neben ihr saß. Sie merkte, wie ihr Zorn jetzt verebbte. Ihre
Mutter war nicht schuld daran, daß es zu all dem gekommen
war. Nein, Vertrauen - selbst in etwas so Fragwürdiges wie eine
Christophorus-Medaille - war eine gute Sache.
»Du hast recht, Mom«, sagte sie.
Über den Knopf in seinem Ohr hörte Graham jetzt den
Nachrichtensprecher sagen: »Ich übergebe an Sie, Alan.«
Er trat von dem Wagen zurück und begann: »Brian Dornans
Mutter hält noch immer an derselben Stelle Wache, wo ihr Sohn
kurz nach siebzehn Uhr spurlos verschwand. Die Behörden
nehmen Catherine Dornans Erklärung ernst, daß Brian
vermutlich gesehen hat, wie jemand ihre Brieftasche an sich
nahm, und dieser Person gefolgt ist. Das Portemonnaie enthielt
eine Christophorus-Medaille, und Brian war sehnlichst darauf
bedacht, sie seinem Vater ans Krankenhausbett zu bringen.«
Graham reichte das Mikrophon an Catherine weiter. »Brian
glaubt daran, daß die Medaille seinem Vater hilft, wieder gesund
zu werden. Wenn ich Brians Gla uben gehabt hätte, hätte ich
besser auf mein Portemonnaie aufgepaßt, weil die
Christophorus-Medaille darin war. Ich möchte, daß mein Mann
wieder gesund wird. Ich will mein Kind zurück«, sagte sie trotz
aller Erregung mit gefaßter Stimme. »In Gottes Namen, wenn
irgend jemand weiß, was mit Brian geschehen ist, wer ihn hat
oder wo er ist, bitte, bitte rufen Sie uns an.«
Graham trat vom Streifenwagen zurück. »Falls irgend jemand,
der irgend etwas darüber weiß, wo Brian sich derzeit aufhält,
von dem Schmerz dieser jungen Mutter hört, so bitten wir ihn
inständig, folgende Nummer anzurufen: 212-555-0748.«
11
Callys Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Lippen bebten,
als sie das Radio abstellte. Wenn irgend jemand weiß, was mit
Brian geschehen ist…
Ich hab’s versucht, sagte sie sich aufgebracht. Ich hab’s
versucht. Sie hatte Detective Levys Telefonnummer gewählt,
doch als sie dann seine Stimme hörte, überwältigte sie das
Ausmaß dessen, was sie im Begriff war zu tun. Sie würden sie
verhaften. Sie würden ihr Gigi wieder wegnehmen und sie in
eine neue Pflegefamilie stecken. Falls irgend jemand, der
irgend etwas darüber weiß, wo Brian sich derzeit aufhält…
Sie griff nach dem Telefon.
Aus dem Schlafzimmer hörte sie einen Aufschrei und fuhr
herum. Gigi hatte wieder mal einen Alptraum. Sie stürzte
hinüber, setzte sich ans Bett, nahm ihr Kind in die Arme und
begann sie hin und her zu wiegen. »Schsch, ist schon gut, alles
ist gut.«
Gigi klammerte sich an sie. »Mommy, Mommy. Ich hab
geträumt, daß du wieder fort bist. Bitte geh nicht weg, Mommy.
Bitte laß mich nicht allein. Ich will nie, nie mehr bei andern
Leuten sein.«
»Das passiert auch nicht, mein Schätzchen, ich versprech’s
dir.«
Sie konnte spüren, wie Gigi sich wieder entspannte. Sanft
legte sie die Kleine auf das Kissen zurück und strich ihr über das
Haar. »So, und jetzt schlaf wieder ein, mein Engel.«
Gigi schloß die Augen, schlug sie dann noch einmal auf.
»Kann ich zuschaun, wie der Weihnachtsmann sein Geschenk
aufmacht?« murmelte
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