Stille Nacht
hellte sich Shores düstere Miene etwas auf. »Mort, warum
legst du nicht mal ‘ne Pause ein?«
Er ist nicht so schlimm, wie er sich gern den Anschein gibt,
dachte Mort. »Ich sehe nicht, daß du mal ‘ne Pause einlegst,
Jack«, antwortete er.
»Das liegt einfach daran, daß ich Siddons mehr hasse als du.«
Mort erhob sich langsam. In Gedanken war er noch immer bei
der nicht greifbaren Erinnerung an einen wichtigen
Anhaltspunkt, der übersehen worden war, irgend etwas, was
ganz bestimmt da war, direkt vor seinen Augen, was er jedoch
einfach nicht zu sehen vermochte. Sie hatten Cally Hunter
morgens um Viertel nach sieben besucht. Sie war bereits für die
Arbeit fertig angezogen gewesen. Sie hatten sie erneut fast
zwölf Stunden später aufgesucht. Sie sah erschöpft und
verzweifelt besorgt aus. Mittlerweile lag sie vermutlich im Bett
und schlief. Doch jeder Nerv in seinem Körper riet ihm dazu,
mit ihr zu sprechen. Trotz ihres Leugnens war er überzeugt
davon, daß sie den Schlüssel zu dem Fall in der Hand hielt.
Gerade als er sich von seinem Schreibtisch abwandte, begann
das Telefon zu läuten. Als er an den Apparat ging, hörte er
wiederum das verängstigte Atmen. Diesmal ergriff er die
Initiative. »Cally«, sagte Mort drängend. »Cally, reden Sie mit
mir! Haben Sie keine Angst. Was es auch ist, ich will versuchen,
Ihnen zu helfen.«
Cally konnte nicht mal daran denken, ins Bett zu gehen. Sie
hatte dem Nachrichtensender im Radio zugehört und dabei
gehofft, aber auch gleichzeitig befürchtet, daß die Cops Jimmy
gefunden hatten, und darum gebetet, der kleine Brian möge in
Sicherheit sein.
Um zehn Uhr hatte sie den Fernseher angestellt, um die
Lokalnachrichten von Fox anzuschauen, dann wurde ihr schwer
ums Herz. Brians Mutter saß neben dem Moderator, Tony Potts.
Ihre Haare erschienen jetzt ein wenig aufgelöst, so als hätte sie
sich draußen in Wind und Schnee aufgehalten. Ihr Gesicht war
sehr blaß, und in ihren Augen stand der Schmerz geschrieben.
Neben ihr saß ein Junge, der zehn oder elf Jahre alt zu sein
schien.
Der Moderator sagte gerade: »Sie haben vielleicht Catherine
Dornans Appelle um Hilfe bei der Suche nach ihrem Sohn Brian
gehört. Wir haben sie und Brians Bruder Michael aufgefordert,
zu uns ins Studio zu kommen. Heute nachmittag um kurz nach
fünf Uhr standen eine Menge Leute an der Ecke Fifth Avenue
und Neunundvierzigste Straße. Vielleicht waren Sie unter ihnen.
Vielleicht haben Sie Catherine mit ihren beiden Söhnen Michael
und Brian bemerkt. Sie standen in einer Gruppe, die einem
Geiger zuhörte, der Weihnachtslieder spielte, und dabei mitsang.
Der siebenjährige Brian, der direkt neben seiner Mutter stand, ist
plötzlich verschwunden. Seine Mutter und sein Bruder brauchen
Ihre Hilfe, um ihn wiederzufinden.«
Der Moderator wandte sich an Catherine. »Sie halten ein Bild
von Brian in der Hand.«
Cally beobachtete, wie das Foto hochgehalten wurde, und
hörte Brians Mutter sagen: »Es ist nicht sehr scharf, deshalb
möchte ich Ihnen noch ein paar Dinge über ihn erzählen. Er ist
sieben, sieht aber jünger aus, weil er klein ist. Er hat dunkle,
rotbraune Haare und blaue Augen und Sommersprossen auf der
Nase…« Ihre Stimme ließ sie im Stich.
Cally schloß die Augen. Sie konnte es nicht ertragen, den
krassen Schmerz in Catherine Dornans Miene anzusehen.
Michael legte seine Hand auf die seiner Mutter. »Mein Bruder
hat einen dunkelblauen Skianorak an, der genauso wie meiner
ist, bloß daß meiner grün ist, und eine rote Mütze. Und einer von
seinen Vorderzähnen fehlt.« Dann brach es aus ihm heraus:
»Wir müssen ihn wiederkriegen. Wir können meinem Dad nicht
sagen, daß Brian verschwunden ist. Dad ist zu krank und darf
sich nicht aufregen.« Michaels Stimme wurde nun noch
dringlicher. »Ich kenne meinen Dad. Der würde versuchen, was
zu unternehmen. Er würde einfach aufstehen und anfangen, nach
Brian zu suchen, und das dürfen wir nicht zulassen. Er ist krank,
richtig schlimm krank.«
Cally schaltete den Fernsehapparat aus. Sie schlich auf
Zehenspitzen ins Schlafzimmer, wo Gigi endlich friedlich
schlummerte, und ging zu dem Fenster hinüber, das zur
Feuerleiter führte. Sie konnte noch immer Brians Augen in dem
Mome nt vor sich sehen, als er sich noch einmal umschaute und
sie anflehte, ihm zu helfen, während die eine seiner Hände in
Jimmys Griff steckte und die andere die Christophorus-Medaille
umklammerte, als
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