Stille Nacht
Drive entlang zur Avenue B an der Zehnten Straße. Ein äußerst
frustrierter Jack Shore war angewiesen worden, in dem
Observierungswagen zu warten, während Mort und der Chef,
Bud Folney, nach oben gingen, um mit Cally zu reden.
Mort war sich im klaren, daß Shore ihm nicht verzeihen
würde, daß er darauf bestanden hatte, ihn aus der Sache
rauszuhalten. »Jack, als wir das letztemal dort waren, hab ich
gemerkt, daß sie etwas auf dem Herzen hatte. Du hast ihr eine
Mordsangst eingejagt. Sie glaubt, daß du alle Hebel in
Bewegung setzt, um sie wieder hinter Gitter zu bringen. Um
Himmels willen, kannst du sie denn nicht mal als menschliches
Wesen ansehen? Sie hat ein vierjähriges Kind, ihr Mann ist tot,
und sie hat die ganze Härte des Gesetzes zu spüren gekriegt, als
sie den Fehler machte, dem Bruder zu helfen, den sie praktisch
großgezogen hat.«
Jetzt wandte sich Mort an Folney. »Ich weiß nicht, worin der
Zusammenhang zwischen Jimmy Siddons und diesem vermißten
Kind besteht, aber ich weiß genau, daß Cally bisher zu
eingeschüchtert war, um zu reden. Falls sie uns jetzt sagt, was
sie weiß, dann bestimmt nur deshalb, weil sie das Gefühl hat,
daß die Behörden… Sie… nicht hinter ihr her sind.«
Folney nickte. Er war ein schlanker Mann von Ende Vierzig
mit dem Gesicht eines Gelehrten und einer freundlichen
Stimme. Er hatte tatsächlich drei Jahre als High-School-Lehrer
verbracht, bevor er zu der Erkenntnis kam, daß seine
Leidenschaft der Strafverfolgung galt. Quer durch die Ränge
waren viele davon überzeugt, daß er eines Tages Polizeichef
sein würde. Schon jetzt war er einer der mächtigsten Männer in
der Behörde.
Falls es überhaupt jemanden gab, der Cally helfen konnte,
vorausgesetzt, daß sie wiederum auf irgendeine Weise
gezwungen worden war, Jimmy zu decken, so war es Folney,
das wußte Mort Levy. Doch das vermißte Kind - wie konnte
Siddons bloß in diese Sache verwickelt sein?
Das war eine Frage, die ihnen allen auf der Seele brannte.
Als der Streifenwagen hinter dem Überwachungsfahrzeug
anhielt, machte Shore einen letzten Versuch. »Wenn ich den
Mund halte…«
Folney erwiderte: »Ich schlage vor, daß Sie sofort damit
anfangen, Jack. Gehen Sie in den Lieferwagen.«
14
Pete Cruise wollte eigentlich gerade für heute Schluß machen.
Er hatte herausgefunden, wo Cally wohnte, als er versuchte, ein
Interview mit ihr zu machen, nachdem sie aus dem Gefängnis
entlassen worden war, und nun hoffte er, ihr Bruder werde
aufkreuzen. Aber seit Stunden schon ließ sich lediglich der stets
neu einsetzende und dann wieder nachlassende Schnee
beobachten. Jetzt hatte es wenigstens den Anschein, daß mit
dem Schneien erst mal Schluß war. Der Lieferwagen, von dem
er wußte, daß es ein Polizeifahrzeug war, stand noch gegenüber
von Callys Wohnung auf der Straße geparkt, aber das einzige,
was sie da drüben taten, war vermutlich, ihre Anrufe abzuhören.
Die Wahrscheinlichkeit, daß Jimmy Siddons plötzlich an der
Haustür seiner Schwester auftauchte, glich in etwa der, daß zwei
Fremde das gleiche genetische Erbgut hatten.
All die Stunden, die er schon vor dem Apartmenthaus der
Hunter herumhing, waren reine Zeitverschwendung, entschied
Pete. Seit er Cally kurz vor sechs hatte nach Hause kommen und
dann gegen sieben die beiden Kriminalbeamten zu ihr hatte
hineingehen sehen, war absolut nichts passiert.
Die ganze Zeit über, während er wartete, hatte er sein starkes
tragbares Funkgerät laufen lassen und zwischen dem
Polizeifunk, seinem Sender WYME und dem Nachrichtensender
WCBS hin und her geschaltet. Keine einzige Meldung über
Siddons. Schlimm, diese Sache mit dem vermißten Jungen.
Als die Zehn-Uhr-Nachrichten auf WYME kamen, dachte
Pete zum hundertsten Mal, daß sich die Moderatorin in dieser
Sparte wie eine Transuse anhörte. Immerhin zeigte sie so etwas
wie echte Anteilnahme, als sie von dem vermißten
Siebenjährigen sprach. Vielleicht brauchen wir ja jeden Tag ein
verschollenes Kind, dachte Pete sarkastisch, schämte sich jedoch
unmittelbar darauf seiner selbst.
In dem Haus, wo die Hunter wohnte, war jetzt ziemlich viel
Betrieb, Leute kamen und gingen. Viele der Kirchen hatten die
Christmette auf zehn Uhr vorgezogen. Egal, wann sie den
Gottesdienst ansetzen, manche Leute kommen immer zu spät,
dachte Pete, als er ein älteres Paar aus dem Gebäude eilen und
die Avenue B hochgehen sah. Wahrscheinlich unterwegs zu St.
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