Stille Seele (German Edition)
jedes Mal die Geschichte hinter seiner deutschen Herkunft zu erzählen, die er selbst nur durch seine Mutter kannte. Heute Abend aber ärgerte ihn Carolins gleichgültige Art seiner Person gegenüber. Er verzog das Gesicht. Carolin kannte ihn in Wirklichkeit gar nicht und sein falsch ausgesprochener Name kam ihm in diesem Moment wie ein Sinnbild für die Kluft zwischen ihnen vor. Er ging an den tanzenden Mitschülern vorbei zu den Getränkekisten. Wenig später setzte er sich etwas oberhalb der Lichtung gegen einen Baumstamm, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche und drehte gedankenverloren das weiße Kärtchen in seiner Hand, das er heute verwaschen in seiner Hosentasche gefunden hatte. Staff Sergeant Coblin stand darauf. Darunter eine Adresse und eine nicht mehr zu entziffernde Telefonnummer. Sie alle würden weggehen und Jakob wünschte sich nichts mehr, als ebenfalls von hier zu verschwinden. Von diesem Ort, der sie alle einengte, wo jeder ihnen auf die Finger schaute, jeden ihrer Schritte verfolgte und wo jede seiner Verfehlungen vor dem Schreibtisch seines Adoptivvaters endete.
27. September 2002, Jabehill, Haus der Atwoods
Carl und Lenni waren seit fast drei Monaten weg und das Leben ohne sie war trostlos. Die wenigen Gleichaltrigen, die wie Jakob in Jabehill geblieben waren, erleichterten ihm die langweiligen Tage, o bwohl sie nicht ersetzen konnten, was Jakob mit seinen besten Freunden verloren hatte.
Es war ein Dienstagabend, als er durch ein leises Klopfen beim Nichtstun unterbrochen wurde. Es folgte ein weiteres, etwas energ ischeres Klopfen, bevor sich die Tür einen Spalt breit öffnete und sein Adoptivvater sich durch die schmale Öffnung quetschte. Er trug noch immer seine Polizeiuniform und die Arbeitsschuhe, die Dreck auf dem Teppich in Jakobs Zimmer hinterließen.
„Darf ich reinkommen?“ Sein Vater blinzelte unsicher zu ihm her über.
„Bist doch schon drin!“ Jakob presste die Antwort zwischen den Zähnen hervor, ohne sich umzudrehen, und hörte, wie sein Vater sich schwer gegen die Holztür lehnte, anstatt wieder zu gehen. Er seufzte ergeben und stand auf. Es machte ihn wütend, dass sein Vater ihn durch seine bloße Anwesenheit und die Art, ständig verständnisvoll zu sein, dazu brachte, sich schlecht zu fühlen. Minderwertig und so, als wäre er trotz oder gerade wegen dieses Verständnisses eine Enttä uschung auf ganzer Linie. Er spürte, wie sich seine Muskeln verspannten.
„Jakob, was hast du vor?“
Jakob warf ihm einen irritierten Blick zu, bevor sich sein Gesicht zu einer spöttischen Grimasse verzog. Er stellte sich auf Zehenspitzen und angelte ein Sweatshirt vom obersten Regalbrett. „Ich treffe mich mit den Jungs. Das ist doch nichts Neues!“ Er zog sich sein Shirt über den Kopf und spürte den prüfenden Blick seines Vaters auf seinem muskulösen – schlaksigen Körper.
„Das habe ich eigentlich nicht gemeint!“ Die Stimme seines Vaters klang unerwartet sanft. Er nahm das aufgeschlagene Buch von Jakobs Nachtschrank und betrachtete nachdenklich den Buchrücken. „Du liest Twain?“ Er schüttelte den Kopf und legte das Buch zurück an seinen Platz.
„Und wenn?“
„Es wundert mich nur.“
„Komm zum Punkt!“ Jakob hatte erwartet, dass die Tatsache zu einem Streit führen würde, dass er sich – wie schon so oft – mit den Jungs traf, die sein Vater regelmäßig wegen Kleindelikten auf seiner Wache sitzen hatte. Fast hatte er sich diesen Streit gewünscht, weil er das Ende dieser provozierenden Ruhe und des Eindringens in seine Privatsphäre bedeutet hätte. Unter einiger Anstrengung versenkte er seine Arme und seinen Kopf in den vorgesehenen Öffnungen und betracht ete sich dann kritisch im Spiegel.
„Jakob!“
„Was willst du, Jackson?“ Jakob sah, wie sein Vater zusammenzuckte, als er ihn beim Vornamen nannte, und für den Bruchteil einer Sekunde regte sich so etwas wie ein schlechtes Gewissen in ihm, bevor er beschloss, es beiseite zu schieben und seinen Teilsieg auszukosten. Er wusste genau, dass es seinen Vater verletzte, und er hatte es bewusst eingesetzt, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Auch nach all den Jahren reichte es aus, Jackson beim Vornamen zu nennen, um ihn daran zu erinnern, dass er nicht Jakobs richtiger Vater war und seine Ansprüche an ihn deshalb zumindest aus Jakobs derzeitiger Sicht begrenzt waren.
Jackson fing sich erstaunlich schnell wieder und setzte nach. „Ich möchte wissen, wie du dir
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