Stille Sehnsucht
gerechnet. Was sollte man zu so etwas auch sagen? Wahrscheinlich kam gleich ein dummer Spruch oder ein hilfloser Versuch ihn aufzumuntern. Es wäre nicht das erste Mal. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie Alex mal einem seiner Lover erzählt hatte, dass er keine echten Freunde hatte. Alex hatte ihm nie gesagt, was genau sein Liebhaber darauf geantwortet hatte, aber Niko würde nie vergessen, wie er mitten in der Nacht von dem Geschrei der beiden wach geworden und in dem Moment in den Flur getreten war, als Alex dem Typen einen Kinnhaken verpasst und ihn vor die Tür gesetzt hatte.
„Freunde hätten erkennen können, wer du wirklich bist. Die Familie sieht meist nur die Schokoladenseiten.“
Niko hob langsam den Kopf und sah Tyler ungläubig an. Er öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn aber wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben. War er tatsächlich so unfähig, andere Menschen einzuschätzen, wie es gerade den Anschein hatte? Wie hatte er Tyler nur so unterschätzen können? Natürlich sagte Tyler nichts Abfälliges, das hatte er noch nie getan. Nicht mal, wenn sie wütend aufeinander waren. Tyler Johnson flüchtete sich nicht in Ausreden und dummen Sprüchen, ganz im Gegenteil. Gerade deshalb zog ihn sein Bulle doch auch so an. Niko hätte Tyler am liebsten geküsst. Stattdessen schüttelte er den Kopf.
„Nicht meine Familie.“
„Nein“, stimmte Tyler ihm zu und Niko wurde nervös, als Tyler sich vor ihn hockte. „Aber sie nehmen dich, wie du bist. Ganz gleich ob mit oder ohne Schokoladenseiten. Genauso wie ich.“
Niko stiegen Tränen in die Augen, aber weil er nicht wollte, dass Tyler ihn weinen sah, beugte er sich vor und umarmte seinen Bullen. Viel zu fest, denn Tyler zuckte zusammen. „Tschuldige.“
„Schon gut“, sagte Tyler und erwiderte seinerseits die Umarmung. „Niko? Ich möchte dir helfen, aber ich kann nicht, wenn du mich nicht lässt.“
Niko vergrub die Nase in Tylers Nacken und musste sich schwer beherrschen, nicht über die Haut zu lecken oder ihn zu beißen, sondern nur Tylers Geruch ganz tief einzuatmen. Parfum, Haut, ein bisschen Schweiß; Tyler pur. Niko konnte nicht genug davon bekommen.
„Bring mich von hier weg.“
„Du brauchst Zeit für dich?“, fragte Tyler und bewies damit einmal mehr, wie gut er seine unausgesprochenen Worte verstand.
„Ja“, gab Niko zu und brach sich dabei fast die Zunge, aber er wollte nur noch raus aus diesem Hotelzimmer. Keine Fragen mehr und keine weitere Debatte über ihn, seinen Vater, was auch immer. Niko war seiner Familie nicht böse, aber es reichte für einen Tag. Eigentlich fürs ganze Leben, aber er war Realist genug, um zu wissen, dass er nicht mehr lange vor seinem Vater davonlaufen konnte. „Ein paar Tage. Wenigstens ein paar Stunden... Keine Fragen mehr. Nicht heute. Bitte, Tyler...“
„Eine Woche.“
„Was?“, fragte Niko irritiert und ahnte Schlimmes, als Tyler sich von ihm zurückzog, bis sie sich ansahen.
„Wir machen einen Deal. Eine Woche. Danach packst du die Karten auf den Tisch. Alle. Sieben Tage, Niko, und keiner mehr. Sonst wirst du immer weiter versuchen, mehr Zeit herauszuschlagen, das wissen wir beide.“
Niko war im ersten Moment sprachlos. Im nächsten runzelte er säuerlich die Stirn. „Das ist Erpressung.“
Tyler nickte. „Ich weiß.“
Mehr sagte sein Bulle dazu nicht? Niko war versucht, sich ganz von Tyler zu lösen, schüttelte aber stattdessen nur den Kopf. „Das kannst du nicht machen.“
„Ich oder dein Bruder, Niko, und glaub' mir, er wollte dir nicht mal eine Stunde geben“, widersprach Tyler und das war zu viel für Niko. Er schnaubte verärgert und löste ihre Umarmung.
„Das ist nicht seine Sache.“
„Niko!“, wies Tyler ihn tadelnd zurecht. „Was hast du denn erwartet? Über fünfzehn Jahre haben Alex und du ihm das verheimlicht und euch lieber von deinem Vater schikanieren lassen. Was glaubst du, wie Mik sich fühlt? Er liebt dich und er möchte helfen. Schieb' ihn jetzt nicht wieder beiseite, das hat dein Bruder nicht verdient.“
Verdammt. Wieso musste Tyler immer so vernünftig sein? Niko stand auf und begann auf und abzulaufen. Er wollte Mikael nichts von dieser CD erzählen. Es musste doch möglich sein, seinen Vater loszuwerden, ohne dass sein Bruder erfuhr, was Alex und er damals getan hatten, um Kilian zu beschützen. Andererseits würden Tyler und Mikael ihm keine ruhige Minute mehr lassen, wenn er das offen sagte. Also war es wohl das
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