Stille Tage in Clichy
zischte Adrienne und zerrte heftig an mir. «Was ist los mit dir? Il est fou» , rief sie, stand auf und warf verzweifelt die Arme hoch. «Où est l'autre?» erkundigte sie sich und suchte Carl. «Mon Dieu!» hörte ich sie wie aus weiter Ferne sagen. «Il dort!» Dann, nach einer vielsagenden Pause: «Also, das übertrifft alles. Los, laßt uns hier verschwinden! Der eine ist betrunken und der andere inspiriert. Wir vertun unsere Zeit. Diese Ausländer haben immer andere Sachen im Kopf. Die wollen gar nicht ins Bett, die suchen nur den Kitzel...»
Kitzel! Ich schrieb auch das auf. Ich erinnere mich nicht mehr, was sie auf französisch sagte, aber was es auch war, es hatte einen vergessenen Freund wieder zum Leben erweckt. Kitzel . Das war ein Wort, das ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gebraucht hatte. Es gab eine Menge Wörter, die meinem Wortschatz entfallen waren, da ich so lange im Ausland lebte.
Ich legte mich zurück und beobachtete, wie sie sich zum Aufbruch fertigmachten. Es war wie eine Theatervorstellung, von einem Logenplatz aus gesehen. Gleich einem Paralytiker im Rollstuhl genoß ich das Schauspiel. Wenn eine von ihnen es sich einfallen lassen sollte, einen Krug Wasser über mich zu schütten, dann würde ich mich nicht von der Stelle rühren. Ich würde mich nur schütteln und lächeln - so wie man über ausgelassene Engel lächelt. (Waren sie das?) Ich hatte nur den einen Wunsch, daß sie gingen und mich meinen Träumereien überließen. Hätte ich irgendwelche Münzen bei mir gehabt, so hätte ich sie unter sie geworfen.
Nach einer Ewigkeit gingen sie zur Tür. Adrienne warf mir aus der Entfernung einen Handkuß zu, eine so unwirkliche Geste, daß ich von der schwebenden Haltung ihres Arms ganz fasziniert war. Ich sah ihn einen langen Gang hinunter entschwinden, wo er schließlich durch die enge Öffnung eines Trichters eingezogen wurde, noch am Handgelenk abgebeugt, aber so verkleinert, so schlank geworden, daß er schließlich einem Strohhalm glich.
«Salaud!» rief eines der Mädchen, und als die Tür ins Schloß schlug, ertappte ich mich dabei, wie ich antwortete: «Oui, c'est juste. Un salaud. Et vous, des salopes. II n'y a que ç a. N'y a que ç a. Salaud, salope. La saloperie, quoi. C'est assoupissant.»
Ich kam zu mir mit einem «Scheiße, was zum Teufel rede ich da überhaupt?»
Räder, Beine, herunterrollende Köpfe... Gut. Morgen wird ein Tag wie jeder andere sein, nur besser, saftiger, rosiger. Der Mann auf dem Brett wird sich vom Ende eines Kais ins Wasser rollen. In Canarsie. Er wird mit einem Hering im Mund wieder hochkommen. Einem Matjeshering, nichts Geringerem.
Wieder hungrig. Ich stand auf und suchte nach den Überresten eines belegten Brotes. Nicht einmal eine Krume lag auf dem Tisch. Ich ging geistesabwesend ins Badezimmer, wo ich mein Wasser abschlagen wollte. Dort lagen zwei Scheiben Brot herum, einige Käsestücke und ein paar zerquetschte Oliven. Offensichtlich angeekelt fortgeworfen.
Ich hob ein Stück Brot auf, um zu sehen, ob man es noch essen konnte. Jemand hatte zornig mit dem Fuß darauf gestampft. Es war mit Senf beschmiert. War es auch wirklich Senf? Besser probierte ich ein anderes Stück. Ich rettete ein leidlich sauberes Stück, das ein wenig durchfeuchtet war vom Liegen auf dem nassen Boden, und klatschte etwas Käse darauf. In einem Glas neben dem Bidet war noch ein Tropfen Wein. Ich kippte ihn hinunter und biß dann herzhaft in das Brot. Durchaus nicht schlecht. Im Gegenteil, es schmeckte gut. Mikroben stören Hungrige oder Inspirierte nicht. Was für ein Quatsch, diese Manie, alles in Zellophan zu verpacken, weil irgend jemand irgendwas berührt haben könnte. Um das zu beweisen, fuhr ich mir damit über den Hintern. Nur flüchtig, versteht sich. Dann schlang ich es hinunter. Da! Was ist schon dabei? Ich suchte nach einer Zigarette. Es waren nur Stummel übrig. Ich wählte den längsten und zündete ihn an. Köstliches Aroma. Nicht dieses getoastete Sägemehl aus Amerika! Echter Tabak. Eine von Carls Gauloises Bleues ohne Zweifel.
Woran hatte ich doch noch gleich gedacht?
Ich setzte mich an den Küchentisch und legte die Füße darauf. Nun wollen wir doch mal sehen ... Was war es denn noch?
Aber ich war unfähig, zu sehen oder zu denken. Ich fühlte mich einfach wundervoll.
Warum überhaupt denken?
Ja, ein großer Tag. Mehrere sogar. Ja, es war erst ein paar Tage her, daß wir hier saßen und uns fragten, wohin wir fahren sollten. Es hätte gut
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