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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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gestern sein können. Oder vor einem Jahr. Kaum ein Unterschied. Man wird in die Mangel genommen, und dann fällt man zusammen. Auch die Zeit fällt zusammen. Huren fallen zusammen. Alles fällt zusammen. Fällt zusammen zu einem Tripper.
    Auf dem Fensterbrett zwitscherte ein früher Vogel. Vergnügt, verschlafen erinnerte ich mich, daß ich vor Jahren so in Brooklyn Heights gesessen hatte. In einem anderen Leben. Ich würde Brooklyn wahrscheinlich nie wiedersehen. Ebenso wenig wie Canarsie oder Shelter Island, oder Montauk Point, oder Secaucus, oder Lake Pocotopaug, oder den Neversink River, auch nicht Kammuscheln mit Speck, keinen geräucherten Schellfisch, keine Bergaustern. Seltsam, wie man im Dreck stecken und glauben kann, man sei daheim. Bis jemand Minnehaha - oder Walla Walla sagt. Heimat . Heimat ist es, wenn es Heimat bleibt. Wo man seinen Hut aufhängt, mit anderen Worten. Weit weg, sagte sie, und meinte damit Ménilmontant. Das ist nicht weit. China ist viel weiter. Oder Mozambique. Wonnig, immer so dahinzutreiben. Paris ist ungesund. Vielleicht hatte sie damit recht. Bißchen Luxemburg versuchen, Kleine! Was zum Teufel, es gibt Tausende von Orten. Bali zum Beispiel. Oder die Karolinen.
    Verrückt, ewig hinter dem Geld her zu sein. Geld, Geld. Kein Geld. Einen Haufen Geld. Tja, irgendwo weit, weit weg. Und keine Bücher, keine Schreibmaschine, kein gar nichts. Sag nichts, tu nichts. Laß dich von der Strömung treiben. Diese Schnalle, Nys. Nichts als eine Möse. Was für ein Leben! . Vergiß nicht - Kitzel!  Ich stand auf, gähnte, rekelte mich und wankte zum Bett.
    Weg wie ein Blitz. Hinunter, hinunter, in den kosmozentrischen Pfuhl. Leviathane schwimmen in sonnenerleuchteten Tiefen umher. Das Leben geht überall wie gewöhnlich weiter. Frühstück pünktlich um zehn. Ein arm- und beinloser Mann, der an der Bar mit den Zähnen bedient. Dynamit fällt aus der Stratosphäre herab. Strumpfbänder schlängeln sich in langen, anmutigen Spiralen herunter. Eine Frau mit einem aufgeschlitzten Torso bemüht sich verzweifelt, ihren abgetrennten Kopf anzuschrauben. Will Geld dafür. Für was? Sie weiß nicht für was . Einfach Geld. Auf einem Schirmfarn liegt ein frischer Leichnam, von Kugeln durchlöchert. Ein eisernes Kreuz hängt ihm am Hals. Jemand bittet um ein Sandwich. Das Wasser ist zu unruhig für Sandwiches. Schau unter S im Lexikon nach!
    Ein reicher, befruchtender Traum, durchschossen von einem mystischen blauen Licht. Ich war in jene gefährliche Tiefe gesunken, wo man vor Wonne und Staunen wieder zum Fruchtknoten wird. Ganz verschwommen wurde mir bewußt, daß ich eine herkulische Anstrengung machen mußte. Das Bemühen, die Oberfläche zu erreichen, war quälend, köstlich quälend. Dann und wann gelang es mir, die Augen zu öffnen: Ich sah das Zimmer wie durch einen Nebel, aber mein Körper war unten in den schimmernden Meerestiefen. Zurückzufallen in Bewußtlosigkeit war eine Wollust. Ich sank glatt hinunter auf den bodenlosen Meeresgrund und wartete dort wie ein Haifisch.
    Dann stieg ich langsam, ganz langsam empor. Es war quälend. Nur Kork und keine Flossen. Als ich mich der Oberfläche näherte, wurde ich wieder in die Tiefe gezogen — hinunter, hinunter in köstlicher Hilflosigkeit, eingesogen in den leeren Strudel, um dort endlose Zeiten abzuwarten, bis der Wille sich sammelte und mich wie eine gesunkene Boje hinauftrieb.
    Ich erwachte mit dem Geräusch zwitschernder Vögel in den Ohren. Das Zimmer war nicht mehr von einem wässerigen Nebel verschleiert, sondern klar und erkennbar. Auf meinem Schreibtisch stritten zwei Spatzen um eine Brotkrume. Ich stützte mich auf den Ellbogen und beobachtete, wie sie zum Fenster flatterten, das geschlossen war. Sie flogen in die Diele, dann wieder zurück, wie wild nach einem Ausgang suchend.
    Ich stand auf und öffnete das Fenster. Sie flogen weiter wie betäubt im Zimmer umher. Ich verhielt mich ganz ruhig. Plötzlich schössen sie durch das offene Fenster. «Bonjour, Madame Oursel» , piepsten sie.
    Es war heller Mittag, ungefähr der dritte oder vierte Frühlingstag...

Mara-Marignan
    Auf den Champs-Élysées, in der Nähe des Café Marignan, lief ich ihr in die Arme.
    Erst kurz zuvor hatte ich mich von einer schmerzlichen Trennung von Mara-Saint-Louis erholt. Das war nicht ihr Name, aber nennen wir sie für den Augenblick so, denn sie war auf der Île St-Louis geboren, und dort wanderte ich oft nachts umher und ließ mich vom Rost zerfressen.
    Da

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