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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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nicht.«
    Â»Richtig. Ich konnte nicht.«
    Ich begann zu weinen, wurde geschüttelt vom Weinen. Ich glaube, das
war damals mein Normalzustand. Mein Vater legte mir die Hand auf die Schulter.
Ich strapazierte uns beide bis zur Erschöpfung. »Es tut mir so leid, Nicky«,
sagte er.
    Mit einer Drehung schüttelte ich seine Hand ab. Ich setzte mich
aufrecht und schaute mich um. »Wo sind sie?« rief ich in Panik.
    Eine Frau trat aus dem Immobiliengeschäft und wickelte sich einen
Schal um den Hals. An den Füßen trug sie knöchelhohe Stiefel mit Pelzbesatz.
    Â»Wen meinst du?« fragte mein Vater.
    Â»Das weißt du ganz genau«, gab ich zurück. »Mum! Und Clara. Wo sind sie?«
    Â»Ach, Nicky«, sagte mein Vater niedergeschlagen und hoffnungslos. Er
schloß die Augen und lehnte den Kopf an die Rückenlehne.
    Â»Ich hasse dich!« schrie ich.
    Ich stieß meine Tür auf und sprang auf den Streifen Straße zwischen
dem Auto und dem Bordstein hinunter. In meiner Wut hatte ich vergessen, daß ich
im Wagen meine Stiefel ausgezogen hatte, wie ich das fast immer tue, damit die
Füße nicht so heiß werden. Ich stand auf Strümpfen in einem Haufen
Schneematsch. Die Frau vor dem Immobiliengeschäft blieb stehen. Mein Vater
legte den Kopf aufs Lenkrad.
    Die Frau sah zuerst mich an, dann schaute sie ins Auto, wo mein
Vater saß. Sie musterte den Anhänger mit der Plane. Schnell hatte sie uns als
mögliche Kunden eingeschätzt. Sie ging ins Haus zurück.
    Meine Füße brannten von dem eisigen Wasser. Ich sprang wieder in den
Wagen und knallte mit aller Kraft die Tür zu. Mein Vater öffnete die Tür auf
seiner Seite und stieg aus. Er zog seinen grauen Tweedmantel gerade (er würde
ihn später nie wieder tragen), sprang über eine Pfütze hinweg und steuerte auf
das Immobiliengeschäft zu.
    So machten wir Bekanntschaft mit Shepherd, New Hampshire.
    Ich steige die Treppe zum Gästezimmer hinauf. Ich klopfe und
rufe Charlottes Namen.
    Als
sich nichts rührt, rufe ich noch einmal. Ich öffne die Tür einen Spalt.
    Die Sonnenjalousie ist heruntergelassen, und es dauert einen Moment,
bis meine Augen sich auf das Halbdunkel einstellen. Dann sehe ich, daß sie im
Sessel meiner Großmutter sitzt. Sie hat die Hände im Schoß gefaltet und sitzt
in der albernen Schlafanzughose wie versteinert.
    Â»Charlotte?«
    Â»Ich soll runterkommen«, sagt sie gleichmütig.
    Â»Nein, nein«, wehre ich ab und begreife im selben Moment, daß sie
darauf gewartet hat, nach unten gerufen und fortgeschickt, vielleicht sogar
verhaftet zu werden. »Nein«, sage ich wieder. »Ich bin’s nur, Nicky. Ich bringe
Ihnen Ihre Jeans. Und das hier.« Ich halte ihr die pinkfarbene Strickjacke hin.
    Â»Ist alles in Ordnung?« fragt sie.
    Â»Ja, alles in bester Ordnung«, versichere ich. Selbst im Dämmerlicht
des Zimmers kann ich das Lockerlassen ihrer Schultern erkennen.
    Â»Und wer war das vorhin?« fragt sie.
    Â»Ein Kriminalbeamter. Er heißt Warren. Er sucht nach Ihnen.«
    Â»O Gott, das habe ich mir gedacht«, sagt sie. »Woher wußte er, daß
ich hier bin?«
    Â»Ich glaube nicht, daß er das wußte«, sage ich. »Er ist gekommen,
weil er meinem Vater sagen wollte, daß sie am …« Aus Angst, sie könnte
gleich wieder zusammenbrechen, halte ich inne. »Am … Sie wissen schon,
wo«, erkläre ich hastig, »eine Taschenlampe gefunden haben.«
    Â»Und dein Vater hat ihm nicht verraten, daß ich hier bin?«
    Â»Nein.«
    Â»O Gott«, sagt sie wieder, aber diesmal spüre ich Erleichterung,
nicht Panik in ihrer Stimme.
    Â»Ist schon gut«, sage ich. »Er ist weg. Und bei diesem Wetter kommt
er bestimmt nicht wieder.«
    Â»Ich habe dich zur Komplizin gemacht«, sagt Charlotte.
    Komplizin , wiederhole ich lautlos für
mich. Ich liebe dieses Wort.
    Sie streicht mit der Hand über die pinkfarbene Jacke auf ihrem
Schoß.
    Â»Möchten Sie etwas essen?« frage ich.
    Â»Nein, im Moment nicht.«
    Â»Ich sollte Sie schlafen lassen«, sage ich.
    Â»Geh nicht«, sagt sie.
    Sie steht aus dem Sessel auf und legt die Jeans und die Strickjacke
auf das Polster. Dann geht sie zum Bett, schlägt die Decken zurück und legt
sich hin. Es ist eine so gewöhnliche Handlung in einem so gewöhnlichen Zimmer,
daß ich mir ganz bewußt ins

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