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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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haben
will.
    Â»Trotzdem«, sagt Warren, »ist es schwer für meine Frau, schwer für
Mary. Tommy, das ist mein Sohn, läßt sich nicht gern anfassen.«
    Ein Murmeln aus dem Mund meines Vaters. Eine Pause, dann ein
weiterer kurzer Wortschwall. Ich rutsche auf dem Scheuerlappen bis zum Fuß der
Treppe und schaue nach oben. Charlotte steht mit schlafzerknittertem Gesicht im
Flur.
    Â»Zu uns kommt die ganze Verwandtschaft«, erzählt Warren. »Am
Heiligen Abend sind wir bestimmt neunzehn oder zwanzig Leute.«
    Mit einem raschen Blick zu Warren, um mich zu vergewissern, daß der
nicht schaut, schüttle ich einmal nachdrücklich den Kopf.
    Â»Mary und ihre Schwester machen dreihundert Piroggen«, sagt Warren.
»Meine Frau ist polnischer Abstammung.«
    Ich hebe den Lappen auf und bücke mich, um eine Treppenstufe zu
wischen. Stumm bete ich darum, daß Charlotte versteht.
    Da neigt sie plötzlich den Kopf zur Seite, und ich erkenne an ihren
Augen, daß sie anfängt zu lauschen, die fremde Stimme registriert. Sie breitet
die Arme aus wie eine Ballettänzerin, und einen Moment lang habe ich den
Eindruck, sie wird von der obersten Stufe herunterfliegen. Aber dann dreht sie
sich auf Zehenspitzen um und entfernt sich.
    Immer noch auf der Hut, trete ich von der Treppe weg und atme dann
tief auf.
    Durch das Fenster kann ich erkennen, daß der Schnee jetzt gefriert.
Er schlägt mit dünnem Ping gegen das Glas.
    Â»Ich bringe Ihnen welche vorbei«, sagt Warren. Er stellt das
Wasserglas auf ein Bord. »Sieht übel aus da draußen. Besorgen Sie sich lieber
noch eine Taschenlampe.«
    Â»Da, wo die herkommt, gibt’s noch reichlich«, versetzt mein Vater.
    Â»Bei dem Sturm könnte Ihnen leicht der Strom wegbleiben«, sagt
Warren.
    Â»Ja, das kann passieren.«
    Der Kriminalbeamte schaut in meine Richtung, als er gegen ein paar
Zentimeter Schnee die Tür aufdrückt. Er winkt einmal kurz und stemmt sich gegen
den Sturm. Den Kragen hochgeschlagen, mit einer Hand den Mantel zuhaltend,
stapft er über die Einfahrt. Er fegt mit seinen Handschuhen den Schnee von der
Windschutzscheibe seines Jeeps und steigt ein. Dabei mustert er das verschneite
Gewirr von Spuren im Schnee. Der Laster und das blaue Auto sind von da, wo er
steht, nicht zu sehen. Für den richtigen Blickwinkel müßte er näher zum Wald
gehen. Aber das tut er nicht. Er stößt mit seinem Jeep zurück, wendet und fährt
endlich davon.
    Mein Vater schließt die Haustür. »Was zum Teufel hast du dir dabei
gedacht?« fragt er.
    Ich starre auf den Boden.
    Â»Du bringst uns in noch größere Schwierigkeiten, als wir sie sowieso
schon haben.«
    Ich hebe den Kopf. »Ich habe nur versucht, ihn loszuwerden«, erkläre
ich.
    Das ist wahr und doch nicht ganz wahr.
    Â»Sie war oben an der Treppe«, füge ich hinzu.
    Â»Ich weiß. Ich habe sie gehört.«
    Â»Du hast sie gehört?«
    Â»Ja.«
    Â»Glaubst du, er auch?«
    Â»Ich weiß es nicht«, antwortet mein Vater. »Ich hoffe für dich, daß
er nichts gehört hat.«
    Er zieht mit einem ärgerlichen Ruck den Reißverschluß seiner Jacke
zu. »Ich bin in der Scheune«, sagt er.

 
    Â  AN DEM TAG, AN DEM WIR aus New
York fortzogen, packte mein Vater einen Anhänger mit Kartons und Koffern,
Werkzeug, Fahrrädern, Skiern und Büchern voll. Darüber befestigte er eine blaue
Plastikplane, senkte den Kopf zu der Plane hinunter und blieb so lange so
stehen, daß ich mich fragte, ob er eingeschlafen wäre.
    Ich
hätte eigentlich beim Packen helfen sollen. Die größeren Stücke sollte später,
wenn wir weg waren, der Möbelwagen holen. Mein Vater hatte mich mit einem
Stapel alter Zeitungen und einem Dutzend neuer Umzugskartons in die Küche
verfrachtet und gesagt, ich solle mich um das Geschirr kümmern. Aber ich war
vor lauter Zorn nicht fähig, einen Finger zu rühren: Ich wollte nicht packen
und für immer fortgehen. Immer wieder nahm ich irgendein Stück zur Hand,
betrachtete es und stellte es wieder hin; nahm es von neuem zur Hand und dachte,
wie soll ich einen Dampfkochtopf packen? Was soll ich mit einem Mixer anfangen?
Meine Beine taten weh, meine Arme taten weh, der Kopf tat mir weh vom vielen
Weinen. Nie wieder werde ich meinen kleinen Flur bei
Nacht sehen , hatte ich mir die letzten vierundzwanzig Stunden immer wieder
vorgesagt. Nie

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