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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Vater
gefiel die Lage, weil er von dort aus noch in letzter Minute zum Grand Central
Station sprinten konnte, wenn er mit dem Zug verreisen mußte. Und meiner Mutter
gefiel die Adresse, weil sie für sie an ihren »freien Tagen«, wie sie diese
Ausflüge in die Stadt nannte, gut zu erreichen war. »Hast du Lust auf einen
freien Tag?« fragte sie mich, und ich wußte sofort, daß sie eine Fahrt in die
Stadt meinte. Ich mußte meine besten Sachen anziehen und ordentliche Schuhe
(keine Turnschuhe) und einen kurzen Auffrischungskurs in gutem Benehmen über
mich ergehen lassen. Ähnlich wie ein Pilot, der von Zeit zu Zeit beweisen muß,
daß er die Maschine, die er fliegt, noch beherrscht.
    Dann
stiegen wir an unserem Bahnhof in den Zug, und ich durfte am Fenster sitzen,
damit ich auf unserer Fahrt nach Manhattan alles sehen konnte, den Hudson, den
glatten Fels der Palisades, den gewaltigen Bogen der George-Washington-Brücke.
Wenn ein Platz frei war, wechselte ich auf die andere Seite des Zugs, sobald
wir uns der Stadt näherten. Ich versuchte, mir die Menschen vorzustellen, die
in den Mietskasernen direkt an den Gleisen lebten. Ich blickte die langen
Straßen in den Außenbezirken hinunter. Ich war tief beeindruckt von den hohen
Wohntürmen und fragte mich, während der Zug weiterratterte, ob sich tatsächlich
Leute auf die Balkone im fünfundzwanzigsten Stock setzten. Dann fuhren wir in
einen langen Tunnel ein und kamen in der riesigen Halle des Grand Central
Station wieder heraus. Auf dem Weg nach draußen versuchte ich, mit meiner
Mutter, deren hohe Absätze auf dem Steinboden klapperten, Schritt zu halten. Sie
ließ meine Hand immer erst los, wenn wir in die Drehtür in dem Bürogebäude
traten, in dem das Büro meines Vaters war.
    Im Foyer des Architekturbüros standen in Glaskästen Modelle der
Bauten, die die Firma entworfen hatte. Sie waren fein und präzise gearbeitet,
mit winzigen Figürchen und Büschen, nicht größer als mein Daumennagel, lauter
Miniaturwelten, in die ich am liebsten hineingeklettert wäre. Dann kam mein
Vater aus seinem Büro und machte viel Aufhebens um uns, obwohl wir uns erst
beim Frühstück gesehen hatten. Sein weißes Hemd bauschte sich leicht über dem
Gürtel, die Ärmel hatte er hochgekrempelt, die Krawatte war unter dem Kragen
ins Hemd gesteckt. Bei dem folgenden Ritual, das ablief wie ein Gottesdienst in
der Kirche, gab er meiner Mutter einen Kuß und sagte, sie solle nicht zuviel
Geld ausgeben, worauf sie lachte und mich ermahnte, brav zu sein.
    Wenn mein Vater und ich dann den Korridor zwischen den kleinen Büros
hindurchgingen, kamen überall Sekretärinnen und Zeichner heraus, um hallo zu
sagen oder mich mit Abklatschen zu begrüßen. Ich erinnere mich an eine Frau
namens Penny, die ein Glas Bonbons in ihrem Büro hatte und mich jedesmal
hereinbat, um mich von den Süßigkeiten probieren zu lassen. Ganz besonders
mochte ich Angus, den Chef meines Vaters, der mich auf einen hohen Hocker vor
ein Reißbrett hob und mir immer einen Kasten nagelneuer Buntstifte schenkte.
Außerdem bekam ich eine Reißschiene und einen Auftrag: Ich sollte ein Haus oder
eine Schule oder einen Laden zeichnen. Ich widmete mich diesen Aufgaben stets
mit Hingabe und erntete sowohl von Angus als auch von meinem Vater
überschwengliches Lob. »Wie alt bist du gleich wieder?« fragte Angus scheinbar
völlig ernst. »Wir werden dich wahrscheinlich gleich von der Schulbank weg
anheuern müssen.«
    Manchmal spazierte ich auch ins Büro meines Vaters und tat so, als
wäre ich eine Sekretärin, während er telefonierte oder an seinem Reißbrett
arbeitete. Mittags schlüpfte er in sein Jackett mit dem Seidenfutter, und wir
gingen zusammen zum Mittagessen. Wir aßen in einem Delikatessengeschäft, wo ich
Käseblintzen und eine Schüssel Krautsalat bestellen konnte. Die Desserts
drehten sich in einer Glasvitrine, und ich weiß noch, wie qualvoll es war,
zwischen dem Kirschkäsekuchen, den Eclairs und der Schokoladencremerolle wählen
zu müssen. Mein Vater, der normalerweise keinen Nachtisch aß, bestellte immer
einen für sich, damit ich wenigstens zwei kosten konnte. Nach dem Mittagessen
gingen wir in den Central Park oder in eine Buchhandlung, wo ich mir ein Buch
aussuchen durfte. Für die Leute im Büro war mein Vater Rob, für die
Angestellten im

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