Stille über dem Schnee
geschafft.
Ich trete aus dem Badezimmer und bemerke im Fenster der Hintertür
einen roten Schimmer. Ich erstarre auf der Stelle, wie bei dem Kinderspiel. Ich
hole tief Atem. Mir bleibt gar nichts andres übrig, als zur Tür zu gehen und zu
öffnen.
»Hallo, Nicky«, begrüÃt mich Warren und tritt ins Haus.
Schnelles FüÃestampfen folgt, Schnee rieselt auf den FuÃboden. »Ist
dein Vater da?« fragt er.
Es singt mir in den Ohren. »Nein«, antworte ich.
»Ich wollte ihm nur noch ein, zwei Fragen stellen«, erklärt Warren,
um dessen FüÃe es zu tauen beginnt. »Ich wollte vorbeikommen, bevor der Sturm
zu schlimm wird.«
Einen Moment lang bin ich unfähig zu sprechen.
»Wo ist er?« Warren sieht mich forschend an.
»Ãh â er muÃte in den Wald, seine Axt suchen«, sage ich. »Er hat sie
im Wald liegenlassen. Er wollte sie holen, bevor sie im Schnee versinkt.«
Mir ist schlecht. Die Lüge ist ungeheuerlich. GroÃartig.
»Tatsächlich«, sagte Warren. Er knöpft seinen Mantel auf und
schüttelt ihn aus, er sieht aus wie ein flügelschlagender groÃer Vogel.
Vom hinteren Flur aus kann ich durch die Küche ins Wohnzimmer sehen,
direkt auf die Couch und die häÃliche schwarz-rote Häkeldecke.
»Böses Wetter da drauÃen«, sagt Warren.
Eine pinkfarbene Mohairjacke mit Perlmuttknöpfen liegt vor den
Kissen. Sie ist ausgebreitet, als hätte eine Frau sie eben noch um die
Schultern gehabt.
Warren putzt ein dutzendmal seine FüÃe an der Matte ab. »Kann ich
vielleicht ein Glas Wasser haben?« fragt er, während er die Mäntel an den Haken
mustert.
»Klar.«
Er geht mit mir in die Küche. Im Vorbeigehen wirft er einen Blick
die Treppe hinauf. »Ich habe Winterreifen, aber trotzdem«, sagt er.
In der Küche mustert er das Geschirr auf dem Abtropfbrett. Ich hole
ein Glas aus dem Schrank, lasse Wasser einlaufen und reiche es ihm. Ich kann
die Pfefferminze in seinem Atem riechen. Ich bemühe mich, seine Narbe nicht
anzusehen.
»Wir haben eine Taschenlampe gefunden«, berichtet er. »Ich wollte
wissen, ob sie deinem Vater gehört oder diesem Kerl.«
»Es ist wahrscheinlich die von meinem Vater«, antworte ich schnell.
»Wir haben an dem Abend eine im Schnee verloren.«
»Hab ich mir schon gedacht.« Warren schaut über meinen Kopf hinweg
zum Wohnzimmer. »Habt ihr euren Baum schon aufgestellt?«
»Das machen wir am Heiligen Abend«, sage ich.
Warren trinkt lange. »Wie alt bist du doch gleich?« fragt er.
»Zwölf.«
Ich höre, wie die Hintertür geöffnet wird. »Dad!« rufe ich an dem
Kriminalbeamten vorbei.
Ich bin geliefert.
»Was ist los?« fragt mein Vater. Die steilen Kerben auf seiner Stirn
sind deutlich zu sehen.
»Ich bin vorbeigekommen, weil ich wissen wollte, ob Sie an dem
Abend, als Sie das Kind gefunden haben, eine Taschenlampe verloren haben«,
erklärt Warren. »Haben Sie Ihre Axt gefunden?«
Mein Vater sagt nichts.
»Du weiÃt doch, Dad, du hast gesagt, du wolltest in den Wald und
deine Axt suchen.« Ich sehe ihm in die Augen, während ich das sage.
»Wir haben eine Taschenlampe gefunden«, bemerkt Warren. »Nicky
sagte, Sie hätten an dem Abend eine verloren.«
»Stimmt.«
»Welche Marke?«
»Keine Ahnung. Schwarz mit einem gelben Schalter.«
»Genau, das ist sie«, sagt Warren.
Ich drücke eine Hand auf meinen Bauch, kneife die Augen zu und
krümme mich ein wenig, wie ich das bei den Mädchen in der Schule beobachtet
habe, tue so, als wartete ich auf das Nachlassen eines Krampfs.
»Und â ist alles bereit für Weihnachten?« fragt Warren.
Mein Vater zieht den ReiÃverschluà seiner Jacke auf.
»Unser Baum steht schon«, sagt Warren und trinkt noch einen Schluck
Wasser. »Einer meiner Jungs â der achtjährige, er ist autistisch â mag es so.«
Mein Vater nickt.
»Es gibt in Concord einen Spezialisten«, fährt Warren fort.
»Angeblich der beste in ganz New Hampshire. Deswegen sind wir in die Stadt
gezogen.«
Ich höre von oben leises Knarren und werfe einen Blick auf Warren,
um zu sehen, ob er das Geräusch auch bemerkt hat.
Ich reiÃe einen Scheuerlappen von einem Haken, stelle einen FuÃ
darauf und beginne den Boden trocken zu wischen, wie mein Vater das immer
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