Stille über dem Schnee
Gedächtnis rufen muÃ, was für eine entsetzliche Tat
sie begangen hat. Unsicher, wie ich mich verhalten soll, hocke ich mich mit
gekreuzten Beinen neben dem Bett auf den Boden.
»WeiÃt du etwas über das Baby?« fragt sie.
Daà sie den Mut hat, diese Frage zu stellen, überrascht mich. Ich
weià nicht, ob ich ihr antworten soll. Ich habe Angst, daà sie wieder zu weinen
anfängt. Im Halbdunkel des Raums kann ich ihr Gesicht kaum erkennen. Sie liegt
da wie ein Kind, die Hände unter die Wange geschoben. Ich bilde mir ein, ihren
Geruch wahrzunehmen; einen warmen, hefigen Geruch, aber nicht säuerlich.
Ich hole tief Atem und spreche schnell. »Es geht der Kleinen gut«,
versichere ich. »Wirklich. Aber sie muÃten ihr einen Finger abnehmen. Mit ihren
Zehen und allem anderen ist alles in Ordnung. Ich weià nicht, welcher Finger es
ist.«
»Oh«, sagt Charlotte. Es ist ein kleines Oh, keine Klage, vielmehr
ein kurzer Laut, der sich in die Zimmerecken verflüchtigt.
»Sie ist jetzt bei einer Pflegefamilie«, berichte ich, bei jedem
Wort auf der Hut, weil es der Tropfen sein könnte, der den Damm zum Bersten
bringt.
»Wo?« fragt Charlotte.
»Das wissen wir nicht«, antworte ich. »Und ich glaube auch nicht,
daà man es uns sagen wird. Man hat sie Baby Doris getauft.«
»Doris«, wiederholt sie, unverkennbar verblüfft.
»Wir wissen nicht, warum«, fahre ich fort. »Vielleicht haben sie ein
bestimmtes System. Sie wissen schon, wie bei den Hurrikans.«
»Doris«, sagt sie wieder, und da ist ein entrüsteter Unterton in
ihrer Stimme. Sie richtet sich ein wenig auf.
»Das bleibt sicher nicht ihr Name â ich meine, später«, sage ich.
»Jemand wird ihr einen anderen Namen geben«, meint sie.
»Wahrscheinlich, ja.«
Charlotte läÃt den Kopf wieder aufs Kissen zurückfallen. »So ein
scheuÃlicher Name«, sagt sie.
»Sie könnten sie doch zurückholen«, sage ich schnell. »Sie würden
sie bestimmt zurückbekommen.«
Sie schweigt.
»Wollen Sie sie nicht haben?« frage ich.
»Ich kann nicht für sie sorgen«, sagt Charlotte. Ihre Stimme ist
merkwürdig tonlos, ohne jede Emotion. »Ich habe kein Zuhause.«
»Ãberhaupt gar keins?« frage ich.
Sie dreht sich auf den Rücken und starrt zur Zimmerdecke hinauf.
Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, ich kann ihr Profil erkennen:
das leicht hervorspringende Kinn, die zusammengepreÃten Lippen, die offenen
Augen, die tollen langen Wimpern, die glatte Stirn.
»Nein«, sagt sie.
»Aber irgendwo müssen Sie doch gewohnt haben«, entgegne ich.
»Ja, natürlich, das stimmt schon«, antwortet sie. »Aber ich kann
nicht mehr zurück.«
Ich möchte fragen, warum nicht, ermahne mich aber, behutsam zu sein,
Geduld zu haben, wie mein Vater Geduld haben muÃ, wenn er seinen Laster
startet. »Wie alt sind Sie?« frage ich statt dessen.
»Neunzehn.« Sie wendet sich mir wieder zu. »Du bist also mit deinem
Vater allein?«
»Ja.«
»Was ist mit deiner Mutter?«
»Sie ist tot«, antworte ich.
Charlotte hebt die Hand und berührt meine Schulter. »Das tut mir
leid«, sagt sie. Ihre Hand bleibt noch einen Moment, dann zieht sie sie zurück
und schiebt sie wieder unter die Decken. »Wie alt warst du, als sie gestorben
ist?«
»Zehn.«
»Das war sicher schlimm.«
Ich zucke mit den Schultern.
»Ich hatte auch noch eine kleine Schwester«, füge ich hinzu. »Sie
hieà Clara. Sie war ein Jahr alt. Sie ist mit meiner Mutter bei dem Unfall
gestorben.«
Ich erwarte wieder eine Berührung an der Schulter, aber die Hand
bleibt, wo sie ist. »Wie hat sie ausgesehen?« fragt Charlotte.
»Clara?«
»Deine Mutter. Wie hat sie ausgesehen?«
»Sie war hübsch«, sage ich. »Nicht sehr groÃ, aber schlank. Sie
hatte lange hellbraune Haare mit Wellen. Nachdem Clara auf die Welt gekommen
war, hat sie sie abgeschnitten, aber ich sehe sie immer mit langen Haaren vor
mir.«
»Wie deine«, sagt Charlotte. »Zeigst du mir ein Foto?«
»Ja.« Und sogleich denke ich an das Album, das ich in meinem Zimmer
habe, und stelle mir vor, wie Charlotte und ich es uns gemeinsam ansehen.
»Ich wollte, ich hätte ein Foto«, sagt sie. »Nur ein einziges Foto.«
Ihr Wunsch trifft mich wie ein Schlag.
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