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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Erst jetzt mache ich mir
klar, daß sie wahrscheinlich keine Ahnung hat, wie ihre kleine Tochter
aussieht. Ist im Krankenhaus eine Aufnahme gemacht worden? Hat die Polizei eine
in den Akten?
    Â»Wo haben Sie früher gewohnt?« frage ich.
    Â»Das kann ich dir nicht …«
    Â»Ich sag’s keinem Menschen. Nicht mal meinem Vater.«
    Â»Sagen wir einfach, es ist eine Kleinstadt nördlich von hier«,
antwortet sie.
    Â»In New Hampshire?«
    Â»Hm, vielleicht«, sagt sie. »Dein Vater ist ein netter Mann. Er will
mich nicht hier haben, und er ist verärgert, trotzdem ist er sympathisch. In
welcher Klasse bist du?«
    Â»In der siebten.«
    Â»Magst du die Schule?«
    Ich bewege meine Beine. »Irgendwie schon«, antworte ich. Tatsächlich
gehe ich sehr gern zur Schule, aber es kann ja sein, daß sie Leute, die gern
zur Schule gehen, für Streber hält, darum möchte ich nicht allzu begeistert
erscheinen. Es ist mir bereits ungeheuer wichtig, was Charlotte von mir hält.
    Â»Ich war auch in der Schule«, sagt sie.
    Â»Wirklich?« Ich kann mir Charlotte nicht in einer Schulbank oder
beim Lesen eines Buchs vorstellen.
    Â»Auf dem College«, erklärt sie. »Aber ich hab’s geschmissen.« Sie
macht eine kleine Pause. »Aber irgendwann geh ich wieder hin.«
    Ich habe das Gefühl, daß ihre ganze Geschichte – die Geschichte, die
ich unbedingt hören möchte – in dieser Pause enthalten ist.
    Â»Hast du einen Freund?« fragt sie. Sie schiebt ihren Kopf an die
Bettkante vor. Ich kann ihren Atem riechen. Ich weiß nicht, was ich antworten
soll. Der einzige Junge, mit dem ich befreundet bin, Roger Kelly, der arme
Kerl, der bringt es einfach nicht.
    Â»Noch nicht, nein«, antworte ich.
    Â»Das kommt schon noch«, meint sie, und ich frage mich, woher sie die
Zuversicht nimmt.
    Ich senke den Kopf und zupfe an einem Fädchen im Teppich. Jetzt ist
der Moment, sie nach dem Mann zu fragen. Aber ich zögere, und mit dem Zögern
geht der Impuls verloren, der die Frage unbefangen und natürlich gemacht hätte.
    Â»Wie ist es draußen?« fragt sie.
    Â»Ziemlich scheußlich.« Ich hebe den Kopf. »Sie müssen erst mal
hierbleiben.« Ich warte auf Protest und fühle mich ermutigt, als er ausbleibt.
    Â»Kann sein, daß Sie noch zwei Tage bleiben müssen«, sage ich
vorsichtig.
    Â»Oh, ich kann nicht zwei Tage bleiben«, entgegnet sie und zieht die
Arme unter der Bettdecke hervor. »Ich wollte überhaupt nicht bleiben.«
    Â»Wohin wären Sie denn gegangen?« frage ich.
    Â»Ach, ich habe einige Möglichkeiten«, antwortet sie vage.
    Durch die geschlossene Tür höre ich von unten meinen Vater nach mir
rufen und stehe eilig auf. Ich möchte nicht, daß er hier heraufkommt und mich
in einem dunklen Zimmer, an Charlottes Bett sitzend, vorfindet.
    Â»Ich muß wieder runter«, sage ich. »Er hat mich gerufen.«
    Â»Er möchte nicht, daß du dich bei mir aufhältst«, sagt sie. Auf
einen Ellbogen gestützt, richtet sie sich auf. »Danke, daß du mir die Jeans
getrocknet hast.«
    Â»Sie können ja runterkommen, wenn Sie soweit sind«, schlage ich vor.
    Â»Ich hätte gar nicht herkommen sollen«, sagt sie, den Blick auf die
dünnen Bänder grauen Lichts rund um die Jalousie vor dem Fenster gerichtet.
    Â»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, platze ich heraus.
    Â»Wie war das eigentlich?« fragt sie. »Wie ihr sie gefunden habt.«
    Mir wird klar, daß ich etwas weiß, was sie nicht weiß, und das
Wissen scheint mir unverdient. Wieder höre ich meinen Vater nach mir rufen. Gleich
wird er die Treppe heraufkommen und mich suchen.
    Â»Sie war ein bißchen verschmiert«, sage ich. »Aber ihre Augen waren
unglaublich. Sie sah so ruhig aus, als hätte sie nur auf uns gewartet. Sie
hatte dunkle Haare.«
    Â»Viele Babys haben am Anfang dunkle Haare«, erklärt Charlotte. »Sie
fallen später aus. Das habe ich gelesen.«
    Â»Sie war schön«, sage ich und wappne mich innerlich gegen eine wilde
Klage – das Brüllen einer Kuh nach ihrem Kalb; einer Löwin nach ihrem Jungen.
Als es still bleibt, gehe ich aus dem Zimmer.

 
    Â  ICH HABE MEINEN VATER vielleicht zwei-, dreimal im Jahr in seinem Büro in New York besucht. Es war in
der Madison Avenue, in der Nähe der St. Patrick’s Cathedral. Meinem

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