Stille über dem Schnee
selbst verschlieÃen. So bleibt sie fünf, vielleicht zehn Minuten
lang, ohne sich zu bewegen.
»Charlotte?« frage ich.
Sie hebt den Kopf und scheint überrascht, mich zu sehen. Sie schiebt
sich die Haare aus dem Gesicht.
»Ich glaube, wir sollten jetzt zurückgehen«, sage ich.
Mit Mühe steht sie auf. Sie stolpert auf den Schneeschuhen, verläÃt
den umgrenzten Bereich und schlüpft unter dem Plastikband hindurch. Sie hat die
gestreifte Mütze liegengelassen, aber ich möchte sie nicht bitten, sie zu
holen.
»Jetzt gehen Sie voraus«, sage ich. »Die Spuren sind gut zu sehen.
Ich sage es Ihnen, wenn Sie falsch gehen.«
Die Haut in ihrem Gesicht ist wund und verschrammt. Der blaue Fleck
an ihrem Kinn, wo sie sich an der Tischecke gestoÃen hat, wird allmählich gelb
und grün. Sie sieht aus, als wäre sie geschlagen worden. Ich laufe unbemerkt
zurück, um die Mütze zu holen, und schiebe sie in meine Tasche. Den Blick auf
den Rücken ihres blauen Parkas gerichtet, folge ich ihr. Sie wischt sich die
Nase mit dem Ãrmel, viel kann das nicht nützen. Ich denke an ihre aufgeriebene
Haut und bekomme Angst, daà sie sich vielleicht Frostbeulen geholt hat, als sie
ihr Gesicht im Schnee vergraben hat.
Charlotte läuft langsam, immer wieder trete ich ihr beinahe auf die
Schneeschuhe. Aber ich möchte nicht vorausgehen, ich fürchte, sie könnte sich
dann einfach niederlegen oder davonmachen. Ich denke über ihre Wut und ihren
Schmerz nach. Galt die Wut ihr selbst oder dem Mann, der das Kind dort im
Schnee ausgesetzt hat? Nein, kein Mann, ein Junge. Der noch studiert. Wie sie.
Sie ist erst neunzehn. Ist man mit neunzehn ein Mädchen oder eine Frau? Ein
Junge oder ein Mann?
Kurz vor der Stelle, wo ich auf dem Hinweg falsch abgebogen bin,
rufe ich ihr zu, welcher Spur sie folgen muÃ. Sie ist ein Automat auf
Bambusgleitern, der sich vorwärts bewegt, weil es keine Alternative gibt. Wenn
sie haltmacht, wird sie sich niederlegen und im Schnee zusammenrollen, und ich
werde sie um nichts dazu bewegen können, wieder aufzustehen. Einmal stolpert
sie und streckt die Hände vor, um den Sturz abzufangen. Sie schürft sich die
Haut an der rauhen Rinde einer Kiefer auf.
»Ziehen Sie die Fäustlinge an«, sage ich.
Als wir vielleicht den halben Weg hinter uns haben, wird mir bewuÃt,
daà ich hungrig bin. Ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen, und auch das
habe ich kaum angerührt. Ich krame in meinen Taschen nach einem Kaugummi oder
einem zerdrückten Keks in Zellophan, der vielleicht von meiner Schulpause übrig
ist. Charlotte bleibt plötzlich stehen, und ich trete ihr hinten auf die
Schneeschuhe.
»Was ist?« frage ich.
Als sie nicht antwortet, versuche ich, an ihr vorbeizuschauen. In
der Ferne kann ich eine beigefarbene Gestalt erkennen, die sich nähert.
»Mist!« sage ich.
Ich gehe meinem Vater entgegen, weil ich weiÃ, daà es ihn noch
zorniger machen wird, wenn er zu uns kommen muÃ. Beide auf Schneeschuhen,
treffen wir auf dem Weg zusammen. Sein Zorn ist ungeheuer.
»Was
zum Teufel soll das sein?« fragt er, seine vom Frost starren Lippen kaum
bewegend.
»Ich wollte nur â¦Â«
»Ist dir eigentlich klar, was du getan hast?« unterbricht er mich.
»Sie hätte wieder ohnmächtig werden können. Ihr hättet euch verlaufen können.
Ihr hättet beide erfrieren können.«
Das verzerrte Gesicht meines Vaters ist kaum wiederzuerkennen. Er
zeigt in die Richtung, aus der er gekommen ist. »Marsch, nach Hause, auf
schnellstem Weg«, befiehlt er mir und blickt an mir vorbei zu Charlotte. »Was
Sie angeht â¦Â«
Aber der Anblick von Charlottes verwüstetem Gesicht bringt ihn zum
Schweigen. Die Schrammen treten jetzt deutlicher hervor, und ihre Augen sind
verschwollen.
»Was ist passiert?« fragt er.
Weder Charlotte noch ich antworten. Wie soll ich auch nur versuchen
zu schildern, was sich dort drauÃen in dem von Orange umgrenzten Kreis
zugetragen hat? Ich weiÃ, wie man das mit zwölf oder elf oder auch zehn Jahren
eben weiÃ, daà ich etwas miterlebt habe, was ich nicht hätte miterleben sollen,
etwas gesehen habe, was ich nicht hätte sehen sollen. Ich weià schon jetzt, daÃ
ich das Bild Charlottes, wie sie in Raserei auf den Schnee einschlägt, niemals
werde vergessen können.
Â
 ICH LAUFE UNTER DEN
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