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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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langsam voran, wie ein Jäger auf der Pirsch, und suche an jedem
Baum, jedem tiefer hängenden Ast nach einem Bruch oder Knick. Aber die Büsche,
die mein Vater und ich vielleicht berührt und verletzt haben, sind fast ganz
mit Schnee bedeckt. Es ist, als schwebten Charlotte und ich über dem Waldboden
dahin.
    Ich habe insgeheim schon kapituliert, auch wenn ich es Charlotte
gegenüber noch nicht zugebe, da entdecke ich in der Ferne einen winzigen Tupfen
Himbeerrot. »Warten Sie hier«, sage ich.
    Ich laufe, so schnell ich kann. Als ich bis auf etwa zehn Meter an
den Tupfen Rot herangekommen bin, erkenne ich, daß er, wie ich gehofft habe, zu
der Mütze gehört, die ich damals am ersten Abend verloren habe. Die Mütze hängt
in einem Gebüsch, vielleicht vom Sturm in der vergangenen Nacht dorthin geweht.
Sie kennzeichnet den richtigen Weg vielleicht nicht ganz genau, aber ich weiß,
daß er nicht allzuweit entfernt sein kann. Ich rufe Charlotte zu, daß sie
kommen soll.
    Ich hole mir die Mütze aus dem Gebüsch und freue mich, sie
wiederzuhaben. Schließlich habe ich sie selbst gestrickt.
    Â»Meine Mütze«, erkläre ich Charlotte. »Der Weg muß hier in der Nähe
sein.«
    Von der Spur, die mein Vater und ich bei unserem zweimaligen Hin und
Zurück gezogen haben, ist eine seichte Mulde geblieben, als flösse unter dem
Schnee ein Bach.
    Ich bedeute Charlotte, mir zu folgen, und halte mich an die Spur.
Wir wandern noch einmal fünfzehn Minuten, bevor ich in der Ferne einen schmalen
Schimmer Orange entdecke.
    Ich warte, bis Charlotte mich eingeholt hat. »Da ist es«, sage ich,
mit ausgestrecktem Arm zeigend.
    Charlotte bleibt eine Minute stehen, wartet, bis ihr Atem wieder
ruhiger geht. Ich rühre mich nicht. Meine Aufgabe ist getan. Ich bin nur die
Führerin und muß ihr nachher nur noch den Weg nach Hause zeigen.
    In umgekehrter Reihenfolge laufen wir weiter, Charlotte voran, ich
hinterher. Ein Wind beugt die Wipfel der Bäume und fegt Schnee herab.
    Charlotte schlüpft unter dem orangefarbenen Plastikband hindurch.
    Die Fußabdrücke, die mit roter Sprühfarbe eingefaßt waren, sind
ausgelöscht. Unter dem aufgehäuften Schnee könnte sich ein Tier eingegraben
haben. Ich will nicht daran denken, daß hier unter dem Schnee wie unter einem
Berg Decken ein neugeborenes Kind liegen könnte.
    Charlotte geht bis zur Mitte des Kreises und kniet nieder. Sie hat
die violett-weiß gestreifte Mütze auf, die ich ihr geliehen habe; die
Fäustlinge hat sie schon ausgezogen. Mit Schneeschuhen niederzuknien ist mehr
als unbequem. Man muß die Füße verbiegen, und der Rand der Schneeschuhe drückt
ins Kreuz.
    Sie nimmt mit beiden Händen Schnee auf und führt ihn zu ihrem
Gesicht. Sie drückt ihn sich auf Mund, Nase und Augen. Minutenlang, scheint es.
Von ihrer Haut erwärmt, beginnt er zu schmelzen und tropft von ihrem Kinn
herab. Sie weint, ihre Schultern zucken. Mit einer schnellen, katzenhaften
Bewegung legt sie sich über den Schnee und vergräbt ihr Gesicht darin.
    Ich bin außerhalb der Absperrung stehengeblieben. Lange rührt sie
sich nicht. Schließlich rufe ich ihren Namen. »Charlotte?«
    Sie zuckt zusammen, rappelt sich auf die Knie und beginnt, in den
Schnee hineinzuboxen. Zuerst mit der rechten Hand, dann mit der linken. Rechts,
links. Rechts, links. Wütende Schläge, von Worten begleitet, die ich zunächst
nicht verstehe. Ich nehme an, sie stöhnt oder weint nur. Aber dann vernehme ich
das Wort dumm . Und danach die Worte konnte ich . Sie neigt sich vornüber und schlägt wie eine
Rasende auf den Schnee ein. Gott, Gott, Gott , sagt
sie immer wieder.
    So habe ich mir das nicht vorgestellt. Mir schwebte eine Szene
stiller Ruhe vor, eine Szene des Ausgleichs und der Heilung. Nicht diese
rasende Wut. Nicht dieser rasende Schmerz.
    Charlotte dreht sich herum und läßt sich in eine sitzende Position
fallen, wobei sie die Beine auf eine Seite kippt und sich hinter dem Rücken mit
den Händen abstützt. Ihr Gesicht ist blutrot und naß.
    Ich warte, von einer Hilflosigkeit überwältigt, wie ich sie noch nie
verspürt habe.
    Â»Gott«, sagt sie wieder. Nicht zu mir und auch nicht zu einem Gott,
an den sie glaubt oder auch nicht. Sie hebt ihr Gesicht zum Himmel. Sie beugt
sich vor und kreuzt die Arme über der Brust. Sie senkt den Kopf, als wollte sie
sich in sich

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