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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Machen Sie sie
an. Vor allen Dingen auf der Treppe.«
    Im Kamin brennt ein Feuer, als ich ins Wohnzimmer komme. Mein Vater
hat ein halbes Dutzend Kerzen angezündet und auf einem Beistelltisch und dem
Couchtisch verteilt. Ich weiß von früher her, daß es gut ist, sich warm
anzuziehen. Ich habe zwei Pullis an, eine lange Unterhose und darüber meine
Jeans und zwei Paar Socken.
    Ich höre meinen Vater in der Küche hantieren. Am Fenster stehend,
schaue ich in den Schnee hinaus. Der Sturm hat aufgehört, und die Wolkendecke
beginnt aufzureißen. Im Osten sind Sterne und der Mond zu sehen. Ich liebe
Mondlicht auf Schnee, das klare, leuchtende Blau auf einer gemeißelten
Landschaft.
    Neben dem Sofa liegen zwei zusammengerollte Schlafsäcke.
Normalerweise wären sie für meinen Vater und mich, aber diese hier sind
zweifellos für Charlotte und mich gedacht. Ich weiß, daß mein Vater nicht mit
Charlotte in einem Raum schlafen wird.
    Mein Vater tritt ins Wohnzimmer. »Kommt sie runter?« fragt er.
    Â»Ja.«
    Â»Der Pulli da ist für sie.« Ein dicker grauer Pullover liegt
gefaltet auf der Armlehne des Sofas.
    Â»Was kochst du?« frage ich.
    Â»Rührei mit Schinken.«
    In der Küche ist es warm, wenn der Gasherd an ist. Ich vermute, daß
mein Vater die Nacht dort verbringen wird.
    Ich knie mich vor das Feuer und füttere es mit Holzspänen. Im
Fußboden sind zwei angesengte Stellen, von Funken verursacht, als ein Scheit im
Kamin barst. Innen ist der Kamin schwarz von Ruß.
    Charlotte kommt zur Tür herein. Sie hat ihre pinkfarbene Strickjacke
fest über der Brust zusammengezogen. Ihre Haare sind frisch gebürstet, und ihre
Haut glänzt rosig im Feuerschein.
    Â»Mein Vater macht was zu essen«, sage ich. »Haben Sie Hunger?«
    Â»Ja.«
    Â»Ich auch. Ich verhungere fast.«
    Charlotte setzt sich mit verschränkten Armen auf die Couch.
    Â»Wie war’s auf dem Rückweg?« frage ich. »Hat mein Vater was gesagt?«
    Â»Nein«, antwortet sie.
    Â»Kein Wort?«
    Â»Nichts.«
    Â»Wow!« sage ich, meine Standardreaktion, wenn mir nichts Besseres
einfällt. Meine Hand streift den Saum ihrer Jeans. »Die ist ganz naß«, sage
ich.
    Â»Nur feucht.«
    Â»Sie werden sich erkälten.«
    Â»Das geht schon so.«
    Â»Warten Sie.«
    Ich laufe zum Zimmer meines Vaters hinauf, suche dort nach einem
Haufen sauberer Wäsche, die sich von der schmutzigen Wäsche auf dem Fußboden
nur dadurch unterscheidet, daß die Sachen gefaltet sind. Charlotte wird
versinken in einer Hose meines Vaters.
    Â»Nein, das kann ich nicht«, sagt Charlotte, als sie sieht, was ich
ihr gebracht habe.
    Â»Sie können«, widerspreche ich ruhig. Ich bin nicht umsonst die
Tochter meines Vaters. »Ziehen Sie sie an. Ich habe auch einen Gürtel mit. Und
der Pulli da drüben ist für Sie. Er ist wärmer als Ihre Strickjacke.«
    Charlotte zögert, dann steht sie auf. Sie nimmt die Kleidungsstücke
an sich und schlägt den Weg zum vorderen Zimmer ein.
    Â»Hängen Sie Ihre Jeans zum Trocknen auf«, rufe ich ihr nach. »An
einer Tür oder so.«
    Ich richte die Tabletts und gieße Milch ein, reiße die Tür zum
Kühlschrank auf und schlage sie gleich wieder zu, als hockte drinnen ein wildes
Tier, das nur darauf wartet herauszuspringen. Mein Vater verteilt Rührei auf
den Tellern. Mir läuft beim herzhaften Duft des gebratenen Schinkenspecks das
Wasser im Mund zusammen.
    Mit zwei Tabletts jonglierend, gehe ich ins Wohnzimmer. Charlotte
sitzt schon wieder auf dem Sofa, das bereits zu ihrem Stammplatz geworden ist.
Sie hat die Aufschläge der Jeans, die meinem Vater gehört, hochgerollt und trägt
über ihrer pinkfarbenen Jacke den Pulli meines Vaters. Sie sieht aus, als hätte
sie sich verkleidet. Ich stelle ihr ein Tablett hin. Sie mustert es, macht aber
keine Anstalten, nach einer Gabel zu greifen.
    Mein Vater kommt mit seinem Tablett und der Laterne ins Zimmer und
ist sichtlich betroffen, Charlotte in seinen Kleidern zu sehen. Im
Laternenlicht sind die Fenster schwarz und voller Spiegelungen. Ich kann mein
eigenes Gesicht erkennen, verzerrt im alten Glas.
    Charlotte nimmt ihre Gabel zur Hand und führt sehr verhalten einen
Bissen zum Mund. Ich weiß, daß sie so hungrig sein muß wie ich, aber ihre
Bewegungen sind steif und förmlich. Ich bin weniger zurückhaltend, und

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