Stille über dem Schnee
sah
überhaupt nicht aus wie die Babys in den Zeitschriften, und als mein Vater zu
mir sagte: »Ist sie nicht sü�«, war ich sprachlos.
Dann besuchten wir meine Mutter, die stolzgeschwellt und nicht ganz
bei sich war. Wie das Echo meines Vaters sagte sie: »Hast du sie gesehen? Ist
sie nicht sü�«, was mich zutiefst beunruhigte. Was war los mit meinen Eltern?
Sahen sie mit anderen Augen als ich? »Wir haben ein kleines Thanksgiving-Kind«,
lachte meine Mutter glücklich.
Ich wurde wieder zu den Rices gebracht, die mich zum
Thanksgiving-Dinner eingeladen hatten. An einem Festtagsessen mit fremden
Leuten teilzunehmen ist für ein Kind ein verwirrendes Erlebnis. Es waren die
falschen Speisen â bei den Rices gab es Erbsen und überbackene Austern, die ich
für die Füllung des Truthahns hielt und sofort ausspucken muÃte â, und der
Kindertisch stand in der Küche, wo mein Kopf auf gleicher Höhe mit einem Topf
voll erkaltender SoÃe auf der Arbeitsplatte war. Beim Essen fiel mir â den
Nachwehen eines Alptraums gleich â immer wieder ein, daà ich gerade eine
häÃliche kleine Schwester bekommen hatte, eine Tatsache, die mich erschütterte
und schweigsam machte.
Meine Mutter und das Baby kamen am nächsten Tag nach Hause, und mein
Vater holte mich bei den Rices wieder ab. Ich stopfte meine Sachen in die
zerknitterte Papiertüte und folgte ihm zum Auto. Er war grau im Gesicht vor
Müdigkeit, und mit dem vergnügten Pfeifen war es vorbei. Ich fühlte mich
verraten und verkauft und starrte zum Fenster hinaus, ohne eine Frage zu
stellen. Mir braucht das alles nicht zu gefallen, sagte ich mir immer wieder.
Im Haus warf mein Vater seine Schlüssel auf die Arbeitsplatte in der
Küche. Ich stellte meine Tüte ab und lieà meine Jacke zu Boden fallen. Aus dem
Schlafzimmer rief meine Mutter nach mir.
»Lauf schon«, sagte mein Vater, der mein Widerstreben bemerkte.
Langsam stieg ich die Treppe hinauf. Vor der Schlafzimmertür zögerte
ich. Meine Mutter sah weich und kuschelig aus in einem seidenen Kimono, den
mein Vater ihr geschenkt hatte. Sie trug das Haar zum Pferdeschwanz gebunden
und hatte kurze rote Socken an.
»Komm rein«, sagte sie und winkte mir zu. »Komm, setz dich zu uns
aufs Bett.«
Ich kletterte auf das hohe weiÃe Bett und kniete mich hin. Meine
Mutter hielt die schlafende Clara im Arm. Meine kleine Schwester war nicht mehr
fleckig im Gesicht. Sie zog den Mund, einen feingezeichneten, aufgeworfenen
kleinen Amorbogen, wie zum Küssen zusammen.
»Möchtest du sie mal halten?« fragte meine Mutter.
Ich wollte sie nicht halten, sowenig ich mich Jahre später zum
erstenmal ans Steuer eines Autos setzen oder, an einem Drahtseil festgehakt,
einen Gletscher überqueren wollte. Ich hatte Angst; ich wuÃte nicht, wie ich
mich verhalten sollte. Ich fürchtete, ich könnte Clara erdrücken oder
zerbrechen. Mindestens würde ich mich blamieren.
Aber meine Mutter redete mir gut zu. »Trau dich ruhig«, flüsterte
sie. »Du kannst es.«
Ich drehte mich herum und stemmte mich mit dem Rücken gegen das
Kopfbrett des Betts. Meine Mutter lieà das Baby vorsichtig in meine Arme
gleiten. Clara war eingepackt wie ein Eskimobaby, und ich war überrascht von
ihrem Gewicht und ihrer Wärme. Sie sah nicht mehr aus wie eine kleine Ratte,
eher wie ein Ferkel. Sie öffnete ein Auge, sah mir direkt ins Gesicht und
schloà es wieder. Ich lachte. Ich war sicher, sie wollte sagen: Hey, groÃe Schwester â wir sprechen uns, wenn ich sehen und reden
kann .
Mein Vater kam ins Zimmer. Er hielt den Fotoapparat hoch und machte
ein Bild. Solange wir in New York lebten, hatte das gerahmte Foto seinen Platz
auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Als wir nach New Hampshire zogen, bestand ich
darauf, daà mein Vater es auspackte und auf ein Bord in unserem neuen
Wohnzimmer stellte. Ich sehe darauf aus, als wollte ich platzen vor Glück.
Ich ziehe mich an wie für eine Alaska-Expedition. Ich leihe
Charlotte Fäustlinge, einen Schal und eine bessere Mütze, und die ganze Zeit
warte ich darauf, daà mein Vater hereinplatzt, uns beide anblafft und mich in
mein Zimmer schickt. Mit Stiefeln kann ich Charlotte nicht aushelfen. Sie hat
GröÃe neun; ich habe GröÃe sechseinhalb; mein Vater hat zwölf.
»Das
geht schon so«, versichert sie. »Die Stiefel sind mir nicht
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