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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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wichtig.«
    Draußen verpasse ich ihr erst mal einen Schnellkurs im
Schneeschuhlaufen. »Es ist nicht schwer«, erkläre ich. »Man schnallt sie an und
fängt an zu laufen. So, schauen Sie«, füge ich hinzu und mache ein paar
Schritte.
    Â»Ich weiß, wie das geht«, sagt sie.
    Charlotte klettert auf den Schneewall hinauf. Sie bewegt sich, als
wären ihre Beine Holzklötze, die sie mit sich herumschleppen muß. Während ich
sie ermahne, locker zu bleiben, werfe ich schnelle Blicke zur Scheune. Ich
glaube, das Geräusch einer Säge zu hören; genauer gesagt, ich hoffe es.
Vielleicht schaffen wir es bis zum Waldrand, ohne daß er etwas merkt. Ich kann
mich nicht erinnern, daß ich mich jemals heimlich von unserem Haus
fortschleichen mußte; in den letzten zweieinhalb Jahren hätte ich auch gar
nicht gewußt, wohin.
    Charlotte keucht, als wir eine Stelle erreichen, wo wir eine Pause
machen können. Sie beugt sich vornüber und stemmt die Hände auf die Knie wie
ein Sportler nach einem Marathonlauf. Ich frage sie immer wieder, ob es ihr
gutgeht, bis sie schließlich sagt, ich solle endlich aufhören, es gehe ihr
bestens. Ich weiß, wenn mein Vater uns erwischen würde (tatsächlich weiß ich
schon jetzt, daß es ›erwischt‹ heißen muß und nicht ›erwischen würde‹), sähe er
mein schlimmstes Vergehen nicht darin, daß ich Charlotte zu dem Ort geführt
habe, wo ihr Kind ausgesetzt wurde, sondern darin, daß ich mit diesem Marsch
ihr Leben in Gefahr gebracht habe. Ich vertraue blind darauf, daß Charlotte,
die ich kaum kenne, mir Zeichen geben wird, wenn es ihr ernsthaft schlechtgeht.
    Â»Sind Sie sicher, daß Sie das schaffen?« frage ich.
    Â»Absolut.«
    Schnee, der sich von den Ästen der Kiefern löst, rieselt sanft
herab. Charlotte beginnt zu schwitzen. Sie wickelt sich aus dem Schal und
öffnet den Reißverschluß ihrer Jacke bis zur Taille. Ihre Jeans ist naß bis zu
den Knien, an ihre Lederstiefel will ich gar nicht denken. Ich empfinde jeden
Schritt als einen Schritt ins Unheil, aber Stolz oder das Gefühl der
Unausweichlichkeit, vielleicht auch einfach der Schwung der Bewegung treiben
mich weiter.
    Nach einiger Zeit höre ich auf, über drohendes Unheil, meinen Vater
und Charlotte nachzudenken, und konzentriere mich ganz auf den Weg. Im Geist
sehe ich ihn klar vor mir; ihn auf dem Waldboden zu finden ist eine andere
Sache. Ich erkenne einen Felsbrocken wieder und sehe die Stelle, an der mein
Vater und ich nach rechts abgebogen sind, danach aber verlasse ich mich mehr
auf meinen Instinkt als auf sicheres Wissen. Ging es aufwärts, als wir dem
Bogen des Hügels nach rechts folgten? Ich versuche, mich zu erinnern, und wollte,
ich hätte bei unserem zweiten Marsch zu der Stelle (an dem Tag, als wir mit
Detective Warren zusammentrafen) genauer aufgepaßt.
    Zwischen Charlotte und mir entwickelt sich eine Art Routine. Ich
gehe dreißig Meter voraus, bleibe dann stehen und warte, bis sie herangekommen
ist. Sie bewegt sich nicht mehr ganz so plump wie zu Beginn unseres Marschs,
und sie kommt besser vorwärts. Jedesmal, wenn ich auf sie warte, drängen sich
mir Katastrophenbilder auf, aber ich stoße sie weg. Daß ich Charlottes
Gesundheit aufs Spiel gesetzt habe, wird nicht das Schlimmste sein, was mein
Vater mir vorwirft, das ist mir jetzt klar. Noch schlimmer wäre es, wenn wir
uns verliefen und andere uns suchen müßten. Vielleicht vergeblich.
    Wir laufen weiter, bis wir eine Lichtung erreichen, die mir völlig
unbekannt ist. Ich versuche, mir einzureden, daß mein Vater und ich sie bei
unseren früheren Wanderungen nur umgangen haben, aber ich weiß, daß es nicht so
ist. Charlotte zu sagen, daß ich den falschen Weg eingeschlagen habe, fällt mir
beinahe so schwer, wie mir den Irrtum selbst einzugestehen. Aber es bleibt mir
nichts anderes übrig.
    Charlotte, die völlig außer Atem ist, sagt nichts.
    Â»Wir finden es schon«, versichere ich.
    Wir gehen den Weg, den wir gekommen sind, wieder zurück. Es ist
nicht schwer, unseren Spuren im frischen Schnee zu folgen. Kleine Vogelfüße
haben schwache Eindrücke in der Schneedecke hinterlassen, und hin und wieder
erkenne ich die wie Schleifspuren aussehenden Abdrücke eines fliehenden Tiers.
Es kommt jetzt darauf an, die Stelle zu finden, wo ich falsch gegangen bin. Ich
bewege mich

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