Stille über dem Schnee
mein
Vater würde mich todsicher ermahnen, nicht so zu schlingen, wäre dies nicht wegen
des Stromausfalls eine Ausnahmesituation und wäre er nicht so starr
entschlossen, Schweigen zu bewahren.
Was ist eine Familie? frage ich mich. Mein Vater und ich sind
genaugenommen eine Familie, aber keiner von uns beiden würde je dieses Wort
gebrauchen, um uns zu beschreiben. Ja, wir sind Vater und Tochter, aber weil
wir einmal Angehörige einer Familie waren, die auseinandergerissen wurden,
betrachten wir uns jetzt als halbe Familie oder Schattenfamilie. Doch während
wir mit unseren Tabletts auf den Knien dasitzen, habe ich das Gefühl,
vielleicht auch nur die Wunschvorstellung einer »Familie«, die aus meinem
Vater, Charlotte und mir besteht.
Ich stelle mir das vor, weil ich es mir wünsche. Ich wünsche mir
eine ältere Schwester. Sie soll kein Ersatz für meine Mutter oder Clara sein,
sondern etwas dazwischen. Jemand, der mir sagen kann, wie ich meine Haare
tragen soll oder was man mit einem Jungen redet, jemand, der vielleicht weiÃ,
wie man sich richtig anzieht. Mein Vater, Charlotte und ich sind nicht blutsverwandt,
jedoch vereint durch einen Menschen, dessen Geist in diesem Zimmer schwebt,
der, auf warme, weiche Kissen gebettet, in der Mitte dieses Zimmers liegen
könnte.
»Schmeckt gut«, sagt Charlotte.
Mein Vater zuckt mit den Schultern.
Das Telefon läutet, das Geräusch ist schrill und fremd. Ich vergesse
immer wieder, daà das Telefon auch funktioniert, wenn der Strom weg ist. Einen
Moment lang rührt sich keiner von uns. Ich denke an Detective Warren und
springe auf. »Ich geh ran«, sage ich.
Ich bin erleichtert, als ich Jos Stimme höre.
»Hallo«, sage ich.
»Was machst du gerade?« fragt Jo.
»Wir essen.«
»Mir ist so wahnsinnig langweilig.«
Ich schaue ins Wohnzimmer hinüber. Jo würde sich nicht so
langweilen, wenn sie wüÃte, daà die Mutter des ausgesetzten Babys bei uns im
Wohnzimmer sitzt und iÃt.
»Dieses blöde Wetter«, sagt Jo.
»Ja.«
»Wir wollten eigentlich ins Kino.«
»Wer alles?«
»Ich mit meinen Cousinen. Du kommst doch noch mit zum Skilaufen?«
»Klar«, antworte ich.
»Und â was hast du den ganzen Tag getrieben?«
Ich bin mit der Mutter des ausgesetzten Kindes in
den Wald gegangen und habe zugesehen, wie sie ausgeflippt ist.
»Nichts«, antworte ich. «Nur ein paar Geschenke eingepackt.«
»Ich auch.«
»Ich glaub, ich muà jetzt aufhören«, sage ich. »Rufst du mich später
noch mal an?«
»Klar«, sagt Jo.
Ich lege auf. Bleibe eine Minute in der Küche stehen. Esse noch eine
Scheibe gebratenen Schinkenspeck. Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, hat
Charlotte fertig gegessen und sitzt so brav da, als wartete sie auf weitere
Anweisungen. Mein Vater legt Messer und Gabel weg.
Charlotte steht auf, nimmt meinem Vater das Tablett aus den Händen
und schiebt es unter ihr eigenes. Sie geht in die Küche hinaus.
»Was wollte Jo?« fragt mein Vater.
»Ach, nichts«, antworte ich. »Kannst du mir mal sagen, warum du das
tust?«
»Warum ich was tue?« fragt mein Vater, obwohl er genau weiÃ, wovon
ich spreche.
»Warum du nicht mit Charlotte redest. Ich versteh das nicht. Es
bringt dich doch nicht um, mit ihr zu reden.«
»Ich kenne sie kaum«, sagt mein Vater.
»Sie will ja auch gar nicht hier einziehen«, entgegne ich. »Sie sagt
dauernd, daà sie wieder fahren will.«
»Und sobald der Schneepflug da war, wird sie das auch tun.« Mein
Vater steht auf. »Das ist hier kein geselliges Beisammensein.«
»Als ob du von so was eine Ahnung hättest!« versetze ich
schnippisch.
Als ich in die Küche komme, ist Charlotte dabei, die
Essensreste von den Tellern zu entfernen. Ich stelle die Laterne auf den Herd.
Charlottes Haar glänzt wie dunkles Gold im Licht.
»Spielen
Sie Schach?« frage ich.
»Nein«, antwortet sie.
»Haben Sie Lust, Marshmallows zu rösten?«
»Am Feuer?«
»Ja.«
»Na ja, eigentlich nicht. Aber mach du dir doch welche«, sagt sie.
Mir fällt ein, wie übel mir gestern war. Ich höre meinen Vater
drauÃen schippen.
»Aber wenn du irgendein anderes Spiel hast, spiele ich gern mit
dir«, fügt sie hinzu.
»Was haben Sie abends immer getan?« frage ich. »Als Sie mit James
zusammengelebt
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