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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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BÄUMEN
HINDURCH , wohl wissend, daß mein Vater auf Charlotte warten muß. Ich
möchte nicht in mein Zimmer geschickt werden. Also werde ich aus freien Stücken
hinaufgehen, mich in mein Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen. Mit
etwas Glück werde ich einschlafen und ohne Erinnerung an die vergangenen
Stunden wieder erwachen.
    Es
ist leicht, dem Weg zu folgen; drei Menschen haben mit ihren Schneeschuhen die
Spur gezogen. Mein Vater in seinem Zorn hat die tiefsten Einschnitte
hinterlassen. Als ich das Haus erreiche, beginnt es wieder zu schneien.
    Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie so ein Schneefall
beginnt. Erst fliegen nur einzelne winzige Flocken durch die Luft, so daß ich
nicht sicher bin, ob es wirklich schneit oder ob der Wind nur Schnee von den
Bäumen bläst. Dann fallen sie leise und sachte überall, es rieselt Schnee wie
im Film oder auf Weihnachtskarten.
    Noch ehe ich fünfzehn Minuten gelaufen bin, ist aus dem sanften Fall
der Flocken ein Schneesturm geworden. Ich überlege, ob ich stehenbleiben soll
für den Fall, daß der Schnee die Spur zudeckt, bevor mein Vater und Charlotte
die Stelle erreichen. Aber dann sage ich mir, daß mein Vater sicherlich den Weg
weiß. Ich will nicht an ihre stumme Wanderung denken, Charlotte voraus, mein
Vater in der Nachhut, zwei Fremde.
    Zu Hause angekommen, schnalle ich meine Schneeschuhe ab, gehe ins
Haus, hole mir aus einem Küchenschrank eine Packung Cremetörtchen und laufe
hinauf in mein Zimmer. Ich lasse meine von Nässe schweren Kleider zu Boden
fallen, bis ich nur noch in der Unterwäsche bin. Bei einem Blick in den Spiegel
über dem Schreibtisch stelle ich fest, daß mein Gesicht rot gefroren ist, und
meine Haare sind strähnig. Ich gehe zum Bett, setze mich auf der Kante nieder
und stopfe die Cremetörtchen in den Mund.
    Noch kauend lege ich mich hin und ziehe die Decke bis zum Kinn. Die
Welt hinter meinem Fenster ist verhangen. Unten wird eine Tür geöffnet und
geschlossen, jemand stampft mit Stiefeln auf die Matte im hinteren Flur. Die
Tür wird ein zweites Mal geöffnet und geschlossen, ein zweites Mal
Stiefelstampfen. Niemand spricht, aber jemand huscht auf Strümpfen die Treppe
hinauf. Ich höre das Quietschen der Tür zum Gästezimmer, dann wieder Schritte
auf der Treppe, schwerere diesmal. Die Tür zum Zimmer meines Vaters fällt zu.
Ich liege in meinem Bett und lausche, aber im Haus ist nichts als Stille.
    Ich erwache. Jemand klopft an meine Tür. Im Zimmer kommt es mir
ungewöhnlich kalt vor. Auf die Ellbogen gestützt, richte ich mich auf. Draußen
ist es dunkel geworden.
    Â»Nicky«,
sagt mein Vater.
    Â»Augenblick.«
    Ich werfe die Bettdecke ab, nehme meinen Bademantel vom Haken an der
Tür und ziehe ihn über. Ich binde den Gürtel und öffne die Tür.
    Mein Vater steht im dunklen Flur, in der Hand eine zu Boden
gerichtete Taschenlampe. Ich kann mit Mühe sein Gesicht erkennen.
    Â»Der Strom ist weg«, sagt er.
    Â»Wie spät ist es?«
    Â»Sieben. Zieh dir was an und komm runter ins Wohnzimmer. Und weck
sie, sie soll auch runterkommen.« Immer noch ist mein Vater nicht bereit, ihren
Namen auszusprechen. »Und, Nicky!«
    Â»Was?«
    Â»Tu so was nie wieder  … Nie wieder , hast du mich verstanden?«
    Ich konzentriere mich auf den Lichtfleck auf dem Fußboden.
    Â»Nur eine halbe Stunde später, und ich hätte euch nicht mehr finden
können«, sagt er. Der Zorn ist aus seiner Stimme verschwunden, nicht aber der
Ton elterlicher Zurechtweisung.
    Â»Es tut mir leid«, sage ich.
    Â»Das will ich hoffen«, sagt mein Vater in der Dunkelheit.
    Ich muß Charlotte an der Schulter rütteln, um sie zu wecken.
Sie schläft mit tief ins Kissen gedrücktem Gesicht. Bevor ich sie berühre,
frage ich mich flüchtig, was sie träumt. Träumt sie von ihrem Freund, der James
heißt? Von Baby Doris, bevor es Baby Doris wurde? Oder sind ihre Träume
konkreter und schrecklicher – von einem neugeborenen Kind, das unter einem
Schneehügel verborgen liegt?
    Â»Der
Strom ist ausgefallen«, erkläre ich ihr, als sie sich aufsetzt. »Wir müssen ins
Wohnzimmer runter. Da haben wir einen offenen Kamin.«
    Sie scheint verwirrt. »Was?« fragt sie.
    Â»Ziehen Sie sich warm an«, sage ich.
    Â»Wie spät ist es?«
    Â»Sieben. Hier auf dem Tisch liegt eine Taschenlampe.

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