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Stille Wasser sind toedlich

Stille Wasser sind toedlich

Titel: Stille Wasser sind toedlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlie Higson
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in Keith verbringst. Einen jungen Menschen um sich zu haben wird die Lebensgeister deines Onkels wecken, da bin ich sicher.

    Und ich muss zugeben, auch ich vermisse dich schrecklich. Ich lege dem Brief die Bahnfahrkarte und etwas Extrageld fürs Essen bei. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, dich wieder zu sehen.
    Deine dich liebende Tante Charmian
     
    James saß im Zug nach London und las zum wiederholten Mal den Brief seiner Tante. Nach dem Wettkampf um den Hellebore-Cup war in der Schule wieder der Alltag eingekehrt. Die letzten beiden Wochen des Halbjahrs waren ohne Zwischenfälle vorübergegangen, und entgegen seinen Befürchtungen war es James gelungen, George Hellebore aus dem Weg zu gehen.
    Vor dem Turnier hatte er sich ausschließlich auf den bevorstehenden Wettlauf konzentriert und das Lernen vernachlässigt, aber der kurze Triumph, als Sieger aus dem Rennen zu gehen, war bald verblasst. Viel zu rasch fand er sich in der alten Tretmühle wieder – Morgenunterricht, Frühstück, Andacht in der Kapelle, anschließend Unterricht in verschiedenen Schulgebäuden, die über die ganze Stadt verstreut waren: New Schools, Queen’s, Warre, Caxton, Drill Hall und all die anderen, die er auseinander halten musste. Noch immer verlief er sich mindestens zweimal am Tag.
    Um zwölf schleppte er seine Schulbücher ins Studierzimmer und brütete über der lateinischen Grammatik, schmiedete lateinische Verse und absolvierte zahllose andere todlangweilige Übungen unter den amüsierten Augen Mr Merriots, und das alles mit der nicht gerade reizvollen Aussicht auf ein weiteres schreckliches Mittagessen von Codrose. Nach dem Essen ging er in die Stadt, trieb Sport oder arbeitete allein in seinem Zimmer, und zweimal die Woche gab es noch Zusatzstunden in Latein, Mathematik, Geschichte, Französisch, Englisch … abwechselnd zwar, jedoch in der immer gleichen öden Reihenfolge. Und dann die Regeln: Rolle niemals deinen Schirm ein, lass dich nie kauend auf der Straße sehen, zeige dich nie mit heruntergeschlagenem Mantelkragen … Es war eine Erleichterung, das alles für eine Weile hinter sich zu lassen.
    So wie es eine Erleichterung war, endlich wieder einmal eigene Kleidung anzuziehen. James hasste die unbequemen Schuluniformen mit den kratzigen Hosen, den steifen Kragen und den wunderlichen, kleinen Krawatten. Er hasste den lächerlichen Zylinderhut und die Weste. Stattdessen trug er nun ein einfaches, kurzärmeliges blaues Baumwollhemd zu einer grauen Flanellhose. Darin fühlte er sich wieder wie er selbst und nicht wie jemand, der vorgab, ein besonders schlauer Schüler zu sein.
    Er teilte das Abteil mit drei anderen Schülern, unter ihnen Butcher, der Tubabläser, und alle vier plauderten aufgeregt über ihre Pläne für die kurzen Ferien.
    »Ich schätze, bei mir wird es ruhig zugehen«, sagte James. »Allein in der einsamen Wildnis Schottlands und nur ein paar Erwachsene um mich herum.«
    »Oh, bei mir zu Hause in London ist es ähnlich langweilig«, erklärte Butcher. »Mein älterer Bruder ist zurzeit bei der Marine, daher werde ich mit meinen Eltern allein sein. Immerhin haben sie mir versprochen, dass wir am Samstag gemeinsam zu einem Konzert in die Albert Hall gehen.«
    James lächelte, sagte jedoch nichts. Butcher wusste gar nichts was für ein Glück er hatte, zu einem richtigen Zuhause mit liebevollen Eltern zurückkehren zu können. James würde das nie wieder vergönnt sein. Er faltete den Brief seiner Tante und steckte ihn weg. Es war besser, nicht allzu sehr über diese Dinge zu grübeln.
    In Paddington verabschiedete er sich von seinen Reisekameraden und schleppte den Koffer einen Stock tiefer in die U-Bahn-Station, von wo aus er quer durch London nach King’s Cross fuhr. Der Waggon war voll, unbequem und stickig, was in erster Linie von dem gelblichen Dunst hunderter von Zigaretten und Tabakpfeifen herrührte. Leider ergatterte James keinen Platz und musste stehen. Auf der Fahrt durch die Unterwelt Londons wurde er kräftig durchgerüttelt. Mal wurde er auf die eine, mal auf die andere Seite geschubst, und so war er richtig froh, als er endlich sein Ziel erreichte, das enge, verräucherte Abteil verließ und den weitläufigen Bahnhof von King’s Cross mit seinem ausladenden Dach aus Eisen und Glas betrat.
    Er musste fast eine ganze Stunde auf den Anschlusszug warten, daher erkundigte er sich kurz nach dem Abfahrtsgleis und genehmigte sich anschließend eine Tasse Kaffee und ein

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