Stille Wasser sind toedlich
mag.« Wieder zog Kelly die Nase hoch.
»Was, glaubst du, könnte ihm zugestoßen sein?«
»Keine Ahnung, vielleicht ist er in den Fluss gefallen und ertrunken. Genau das will ich ja herausfinden. Aber dazu muss ich erst mal hinkommen.«
»Wenn es etwas gibt, das ich für dich tun kann …?«
»Das gibt es tatsächlich.« Kelly beugte sich vor und sagte leise zu James: »Würdest du mich hier verstecken?«
»Dich verstecken?«
»Wenn der Fahrkartenkontrolleur kommt.«
James sah Kelly forschend an und fragte sich, worauf er sich da gerade einließ. Er kannte Kelly zwar nicht, aber es war schwer, ihn nicht zu mögen. Kelly hatte den Schalk im Nacken, aber auch viel Kampfgeist. Unter anderen Umständen, sinnierte James, etwa wenn er in eine andere Familie hineingeboren worden wäre, könnte ebenso gut er an Kellys Stelle hier sitzen. Andererseits hatte er keine Lust, aus dem Zug verwiesen zu werden oder sich am Ende sogar noch Ärger mit der Polizei einzuhandeln.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Kelly und versetzte ihm einen Klaps aufs Knie. »Wenn was passiert, nehm ich’s auf meine Kappe und behaupte, ich hätte dich mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen oder so.«
»Mit einer Pistole?«
»Na ja, dann hab ich eben gedroht dir eins überzubraten … Keine Angst, so was würde ich nie machen.«
James lachte. »Na dann«, sagte er. »Und wo willst du dich verstecken?«
Als zwanzig Minuten später der Schaffner den Kopf zur Tür hereinstreckte und die Fahrkarte sehen wollte, saß James allein auf der Bank und Kelly hatte sich oben zwischen Wand und Klappbett gequetscht.
»Bin heute nur ich in diesem Abteil?«, fragte James den Schaffner.
»So ist es, mein Sohn«, erwiderte der Mann in einem breiten Glasgower Akzent. »Heute Nacht ist nicht viel los. Du hast das Abteil für dich allein.«
James lächelte unschuldig – wenn der Mann wüsste!
Als die Luft rein war, holte James Kelly aus seinem unbequemen Versteck hervor. Der Junge war puterrot im Gesicht. Er schwitzte und schnappte nach Luft, aber der Trick hatte funktioniert.
Später nahm James das Geld, das Tante Charmian ihm geschickt hatte, und ging in den Speisewagen, um zu essen. Währenddessen hielt er Ausschau nach George Hellebore. Von ihm war nichts zu sehen, trotzdem schlang James die Mahlzeit so schnell wie möglich hinunter und stopfte sich für seinen blinden Passagier die Taschen mit Brötchen, Obst und einem Paar Würstchen voll, das er in die Serviette wickelte.
Kelly freute sich riesig über den Proviant und machte sich gierig darüber her.
»Wo, glaubst du, sind wir inzwischen?«, fragte er mit vollem Mund.
»Wir haben vor kurzem Grantham passiert«, sagte James. »Der nächste Halt ist York …« Wie langweilig diese Namen klangen. James stellte sich graue englische Städte vor mit ihren endlos langen Reihen kleiner Häuser. Wie viel aufregender wäre es, quer durch Europa zu reisen. Allein schon die Namen klangen romantisch: Paris, Venedig, Budapest, Istanbul …
Er stand auf. »Ich werde noch mal rasch auf die Toilette gehen«, erklärte er.
»Gute Idee«, sagte Kelly. »Muss nachher selbst mal auf den Lokus.«
James verließ das Abteil und wankte den Gang des sanft schaukelnden Waggons entlang. Als er die Toilette erreichte, war sie besetzt. Er schob das Gangfenster herunter. Ein Schwall kalter Luft schlug ihm entgegen. Draußen war es dunkel, aber James stellte sich im Geist die vorbeiflitzende Landschaft vor.
Er hörte das Rauschen der Toilettenspülung und wandte sich um. Die Tür wurde entriegelt und heraus kam – George Hellebore. Vermutlich hatte er ein sehr spätes Abendessen im Speisewagen eingenommen. Beim Anblick von Hellebores verblüfftem Gesicht hätte James beinahe laut aufgelacht. George sah aus, als stünde er dem Monster von Loch Ness gegenüber.
»Hallo«, sagte James. »Wer hätte gedacht, dass wir uns im Zug treffen?«
Ohne ein Wort packte Hellebore James und schleuderte ihn gegen die Tür. »Was hast du hier zu suchen?«, zischte er.
James lachte auf. »Was glaubst du denn?«, gab er zurück. »Ich fahre nach Schottland, so wie du.«
»Ich sollte diese Tür öffnen und dich einfach rausschmeißen«, drohte Hellebore.
»Tut mir Leid«, erwiderte James. »Ich wusste gar nicht, dass es ein Gesetz gibt, wonach es verboten ist, im selben Zug zu sein wie du.«
»Seit dem verfluchten Wettrennen träume ich davon, auf welche Weise ich dich umbringen werde.«
»Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?«,
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