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Stille Wasser sind toedlich

Stille Wasser sind toedlich

Titel: Stille Wasser sind toedlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlie Higson
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Milchbrötchen im Bahnhofsrestaurant. Dort saß er dann in dem warmen, miefigen Gastzimmer, umgeben vom lauten Geschnatter der an- und abfahrenden Reisenden.
    James liebte es, andere Leute zu beobachten und so viel wie möglich über sie herauszufinden anhand ihres Aussehens oder ihrer Art, zu reden und zu gehen. Er dachte sich sogar Lebensgeschichten für sie aus. Der Mann in der Ecke, der sich hinter seinem Koffer verschanzte, war ein Meisterdieb, der einen Raubüberfall plante; die Frau im Pelzmantel und den unechten Perlen hatte ihren Ehemann umgebracht und wartete jetzt auf ihren Liebhaber, um gemeinsam mit ihm zu fliehen; der Mann mit dem vielen Gepäck war ein berühmter Forscher auf dem Weg in die Arktis …
    Kurz nach sieben Uhr verkündete eine verzerrte Lautsprecherstimme: »Der London und North Eastern Express mit Schlafwagen zur Weiterfahrt um sieben Uhr neununddreißig nach Fort William über Edinburgh steht auf Gleis sechs zum Einsteigen bereit …«
    James verließ das Café und schleppte seinen Koffer zum Bahnsteig, wo die Zugpassagiere zunächst am Fahrkartenkontrolleur vorbeimussten. Als er näher kam, bemerkte er einen mageren, rothaarigen Jungen von etwa sechzehn Jahren, der vor dem Bahnsteig herumlungerte und versuchte sich unauffällig unter die Reisenden zu mischen.
    James reihte sich in die Warteschlange ein, und sofort kam der Junge herbeigeschlendert.
    »Hey, du«, sagte er in unverwechselbarem Cockney-Akzent und kratzte sich am Kopf. »Du könntest mir wohl nicht ’nen kleinen Gefallen tun, was, Kumpel?«
    »Was für ein Gefallen soll das sein?«, fragte James.
    »Och, nur ’ne Kleinigkeit. Es ist nämlich so: Ich hab meine Fahrkarte verloren und jetzt weiß ich nicht, wie ich an dem Kerl da vorbeikommen soll. Du könntest ihn nicht vielleicht, na ja, irgendwie ablenken oder so?«
    James bezweifelte zwar, dass er die Wahrheit sagte, aber der Junge gefiel ihm. Der Rotschopf sah ihn mit einem schiefen Grinsen an, so als wüsste er ganz genau, dass James ihm nicht eine Sekunde lang glaubte, es aber dennoch ganz unterhaltsam fand. Obwohl er einige Jahre älter war als James, war er nur wenig größer, sehr drahtig und hatte schnelle, kluge Augen.
    »Mal sehn, was ich tun kann«, meinte James.
    »Klasse, Mann«, sagte der Junge und zwinkerte.
    Als James an der Reihe war, seine Fahrkarte zu zeigen, tat er so, als könnte er sie nicht finden, und durchsuchte umständlich sämtliche Taschen. Als er sie endlich gefunden hatte, löcherte er den Kontrolleur mit einer Reihe komplizierter Fragen. Anfangs gab der Bahnbedienstete noch bereitwillig Antwort, doch seine Ungeduld wuchs im gleichen Maße wie die Warteschlange hinter James. Zu allem Überfluss ließ James dann auch noch seinen Koffer auf den Fuß des armen Mannes fallen.
    In der daraus resultierenden Verwirrung gelang es dem Rothaarigen, an dem Kontrolleur vorbeizuschleichen und sich zu einem älteren Ehepaar zu gesellen, das ihn ganz offensichtlich noch nie zuvor gesehen hatte. Ungeniert plaudernd stieg er mit den beiden in den Zug ein.
    »Tut mir Leid«, sagte James. Der Fahrkartenkontrolleur rieb sich den Fuß und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren.
    »Schon gut«, sagte er. »Beeil dich lieber und steig endlich in den verdammten Zug ein, sonst stehen wir hier noch die ganze Nacht herum.«
    Grinsend ging James den Bahnsteig entlang. Die große Lokomotive fauchte und grummelte und sandte ungeduldig kleine Dampfwolken in die Luft, die sich über den gesamten Bahnsteig verteilten.
    Es dauerte nicht lange und James hatte seinen Waggon gefunden. Er befand sich unmittelbar hinter dem Speisewagen, der den hinteren Teil des Zuges von den Wagen erster Klasse trennte. James öffnete die Tür, stieg ein und ging den schmalen Gang; entlang, bis zu seinem Abteil. Er drehte den Türknauf und trat ein. Das Abteil war mit einem winzigen Waschbecken und zwei schmalen Etagenbetten ausgestattet. Die oberste Liege war hochgeklappt, sodass man die untere als Sitzbank benutzen konnte.
    James richtete sich für die lange Fahrt nach Schottland ein. Er holte ein Buch aus dem Koffer: die neueste Abenteuergeschichte von Bulldog Drummond. Er las einige Zeilen, konnte sich jedoch nicht richtig darauf konzentrieren und ertappte sich dabei, wie er aus dem Fenster starrte und die letzten, verspätet eintreffenden Zugreisenden beobachtete. Amüsiert schaute er zu, wie zwei Bahnbedienstete schwer beladene Kofferwägen den Bahnsteig entlangschoben, und

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