Stille Wasser sind toedlich
Ein Mann kann ohne weiteres in so einen Wassergraben stürzen und nie wieder auftauchen.«
»Oder ein Junge«, sagte James. »Ein Junge wie Alfie Kelly.« Er ließ Lord Hellebore nicht aus den Augen und stellte befriedigt fest, dass dessen glatte Fassade zum ersten Mal einen Riss bekommen hatte.
Hellebore war gerade dabei, den letzten Riemen an James linkem Fußknöchel zu lösen. Bei James Worten hielt er inne. »Was weißt du über Alfie Kelly?«
»Nur dass er hergekommen ist, um zu angeln«, sagte James. »Und nicht nach Hause zurückkehrte.«
»Wie interessant«, sagte Randolph mit einem freundlichen Lächeln und gab James’ Fuß frei.
James schwang die Beine über den Rand des Metalltisches und setzte sich auf. Vorsichtig berührte er die Beule an seinem Kopf. Ihm war schwindlig und er war hundemüde.
»Eine sehr interessante Theorie«, sagte Hellebore. »Nur leider eine, die nie zu beweisen sein wird.«
Hinter ihm stieß der Aal gegen die Glasscheibe und schlängelte sich daran nach oben, so als suche er nach einem Fluchtweg. Dann ließ er sich zurück in das Wasserbecken sinken und schwamm ungerührt weiter. James war seltsam fasziniert von seinem Anblick.
»Gefallen dir meine Aale?«, fragte Hellebore. »Hübsche Kerle, nicht wahr? Aber vor allem perfekt angepasst. Bei Aalen gibt es nichts, was unnötig ist. Seit Millionen von Jahren haben sie sich nicht verändert. Sie müssen es nicht. Es sind ganz außerordentliche Kreaturen, weißt du?« Hellebore führte James zu dem Wassertank. Dort blieben sie nebeneinander stehen und beobachteten den Fisch in dem grünlichen Wasser. Hellebores Gesicht spiegelte sich in der Glasscheibe wieder, seine Augen glänzten. Nachdenklich rieb er mit dem Finger über seine makellos weißen Zähne.
» Anguilla anguilla , der europäische Flussaal«, sagte er. »Er laicht in der Sargasso-See, tausende von Meilen entfernt im Nordatlantik.« Seine Stimme klang ruhig und beinahe ehrfürchtig. »Die Sargasso-See, dieser seltsame, tote Ort zwischen verschiedenen Meeresströmungen ist vollkommen still und flach. Auf der Oberfläche treibt Sargassum, ein Seetang, nach dem dieser Teil des Meeres benannt ist, und darunter, in schwarzer Tiefe, sind die Aale. Was für ein Anblick muss das sein – auch wenn kein Mensch dies je gesehen hat: eine riesige, brodelnde Masse von Aalen, die ihren Liebestanz aufführen.«
Hellebore zeigte James auch die anderen Bassins. In jedem von ihnen schwamm ein einzelner Aal. Einige Tiere waren nur klein, andere mehr als ein Fuß lang, und ein besonders monströses Exemplar war drei Fuß lang und so dick wie der Arm eines Mannes.
»Alle Aale in Europa werden dort geboren«, erklärte Hellebore weiter. »Auch diese Aale wurden dort geboren. Sie haben sich aus Eiern entwickelt, die in der Sargasso-See abgelegt wurden. Kaum sind die Larven dort geschlüpft, machen sie sich auf die Reise.«
Hellebore schwieg für einen kurzen Moment, bevor er sich wieder an James wandte. »Du würdest sie nicht erkennen«, sagte er. »Es sind winzige Kerlchen, völlig durchsichtig, und sie haben die Form eines Weidenblatts. In diesem Stadium bezeichnet man sie deshalb auch als Weidenblattlarven. Diese Weidenblattlarven machen sich auf ihren schier unglaublichen Weg zu den Süßgewässern Europas, quer durch das Meer, in dem viele Gefahren und zahlreiche räuberische Fische lauern. Wenn sie ihr Ziel erreicht haben, sehen sie schon fast wie richtige Aale aus, sind allerdings längst nicht so groß wie diese Prachtkerle hier. Schau dir das an …« Hellebore zeigte auf ein Bassin, in dem tausende von kleinen, durchsichtigen Kreaturen wimmelten. Die Köpfe waren viel zu groß für den Körper, und die Augen waren wie schwarze Stecknadelköpfe.
»Das sind so genannte Glas-Aale«, erklärte Hellebore. »Sie sehen aus wie kleine Glassplitter. Wenn sie die Flussmündung erreicht haben, warten sie erst noch ein wenig. Sie wachsen, bekommen ihre dunkle Farbe und entwickeln sich zu jungen kräftigen Aalen. Erst dann schwimmen sie los, Millionen von ihnen. Oh, das müsstest du einmal sehen, wie sie in Scharen die Flüsse hinaufschlängeln. Man braucht nur ein Netz ins Wasser zu tauchen und schon kann man sie eimerweise einsammeln. Nichts kann diese Tiere wirklich aufhalten, dazu sind es zu viele. Immer weiter geht die Reise, die Flussläufe hinauf bis zu den Seen und Teichen. Mein Gott, sie schliddern sogar über nasses Gras, um dorthin zu gelangen, wohin sie wollen. Dort
Weitere Kostenlose Bücher