Stille Wasser sind toedlich
bleiben sie dann, werden älter und weiser, dicker und länger, Jahr für Jahr, und warten im Schlamm. Bis sie eines Tages, niemand kann sagen, wann und wie, den Ruf hören und beschließen, dass es Zeit ist, zurückzukehren. Dann machen sie sich auf, den Fluss hinab bis ins Meer und noch weiter, Meile um Meile, bis zu der stillen Sargasso-See, wo sie laichen. Danach sterben sie. Ihre leblosen Körper sinken im dunklen Wasser langsam nach unten bis auf den Meeresboden.«
Widerstrebend riss Hellebore sich von dem Anblick der Glas-Aale los und wandte sich James zu. In seinen Augen glomm ein Feuer.
»Hast du schon jemals einen Aal gefangen?«, fragte er. »Einen ausgewachsenen Aal? Einen richtig großen, dicken? Es sind Ehrfurcht gebietende Biester. Ihre Haut ist so zäh, dass man Stiefel daraus machen kann. Und hast du je versucht einen zu töten? Bei Gott, das verlangt einem einiges ab. Sie sind unglaublich stark und rücksichtslos. Setze zehn kleine Aale in ein Bassin aus. Am nächsten Tag sind es nur noch neun, am darauf folgenden acht, und bald ist nur noch ein einziger übrig. Ein großer, fetter, kräftiger Aal.« Hellebore lachte. »Wir Menschen halten uns für die Könige der Welt, setzen uns an die Spitze der Nahrungskette, glauben, alle anderen Lebewesen beherrschen zu können. Verglichen mit den Aalen sind wir kümmerliche, schwache und neurotische Kreaturen. Ah, da ist George!«
James sah zwei Paar Füße auf dem Treppenabsatz. Eines davon gehörte George. Der Junge war blass und machte einen verwirrten Eindruck. Er gähnte und rieb sich die Augen. Als er James bemerkte, zog er ein langes Gesicht.
»Kennst du diesen Jungen?«, fragte sein Vater ohne lange Vorrede.
»Ja«, antwortete George. Man konnte sehen, dass er auf der Hut war. James dachte daran zurück, wie er in Eton Vater und Sohn beobachtet hatte. Damals war George ganz starr vor Angst gewesen.
»Er behauptet ein Freund von dir zu sein«, sagte Hellebore und blickte seinen Sohn durchdringend an.
George zögerte.
»Nun?«, bellte sein Vater.
»Ich kenne ihn«, sagte George. »Ich weiß, dass er einen Onkel im Dorf hat.«
»Danach habe ich nicht gefragt. Ich will wissen, ob er ein Freund von dir ist.«
Wieder zögerte George. Er starrte seinen Vater an und schaute dann auf den Fußboden. In James Richtung blickte er nicht.
»Nein«, sagte er.
James’ Herz sank in die Hose. Aber was hatte er anderes erwartet? Bei näherer Betrachtung hatte er sich für die dümmste Ausrede entschieden, die es überhaupt gab. George hasste ihn. Wäre sein Kopf klarer gewesen, hätte er bestimmt eine bessere Geschichte parat gehabt.
»Hast du eine Ahnung, was der Junge hier wollte?«, fragte Hellebore.
»Nein«, sagte George.
»Nun gut«, sagte Hellebore. »Du kannst wieder auf dein Zimmer gehen.«
James glaubte einen Anflug von Mitgefühl an Georges Miene ablesen zu können.
»Was hast du mit ihm vor?«, fragte George.
»Das braucht dich nicht zu kümmern«, erwiderte der Vater barsch. »Ich muss dieser Sache auf den Grund gehen. Jetzt geh und leg dich schlafen!«
»Vielleicht sollte ich besser hier bleiben.«
»Es ist schon spät«, knurrte Hellebore. »Geh wieder ins Bett! Die Angelegenheit geht dich nichts an.«
George und James tauschten einen kurzen Blick aus. James war sich sicher, dass in diesem kurzen Moment etwas zwischen ihnen aufgeflackert war. Ein Hauch von Kameradschaft vielleicht? »Dad …?«
»Du bist hier überflüssig.«
George nickte und drehte sich um.
James rannte zu ihm und hielt ihn am Arm fest. »George«, sagte er drängend. »Du musst mir helfen.«
»Ich kann nicht«, sagte George ruhig. MacSawney trat einen Schritt vor, packte James grob und zog ihn weg.
George sah sich nicht mehr um, sondern hastete die Treppe hinauf.
James’ Lage war hoffnungslos. Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Es kam ihm so vor, als habe man soeben den Sargdeckel über ihm zugeklappt.
»Ich werde dir etwas sagen, Bond«, begann Hellebore, als das Echo der zuschnappenden Tür verklungen war. »Damit du auch verstehst, was mit dir passiert.«
Ein Schauder durchlief James. Sein Magen drehte sich um und ein dicker Klumpen Angst schnürte ihm die Kehle zu. Nervös blickte er sich im Labor um. Er sah den jungen Deutschen. Auf dessen ausdruckslosem Gesicht lag jetzt ein leichtes Lächeln. Der Wissenschaftler strich sich mit seinem langen, knochigen Finger über den Nasenflügel. Dann sog er vernehmlich die Luft ein und schrieb in sein
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