Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
Vom Netzwerk:
schaltete das Radio ein, hörte sechs Stücke und kam drei Meter voran. Eine neue Kaltfront nahte, die gegen Mitternacht durchziehen sollte. Unten in Austin hatte jemand den kläffenden Köter seiner Nachbarn abgeknallt, sie dann zum Essen eingeladen und ihnen »ein köstliches Gulasch« vorgesetzt.
    Der Stau löste sich schließlich auf, und gegen halb sieben kam ich nach Hause. Vicky hatte Huhn in Currysoße zubereitet, dazu frisches Gemüse mariniert und britische Biskuittörtchen gebacken. Hinterher saßen wir eine ganze Weile da und tranken Kaffee. Vicky ließ sich über dies und jenes aus, was sie im Krankenhaus oder auf der Straße erlebt hatte.
    »Irgendetwas ist hier von Grund auf falsch, irgendetwas Hartes und Unerbittliches«, sagte sie. »Ich spüre das bei den Patienten, mit denen ich zu tun habe, und ich sehe es den Leuten an, die in ihren Autos an mir vorbeifahren. Kein Wunder, dass viele von euch halb irre sind. Nicht bloß schrullig, von wegen, sondern außer sich – wie besessen. Ich weiß nicht, ob man sich hier als Ausländer jemals wohlfühlen, sich anpassen kann. Ich weiß auch nicht, wie du damit klarkommst.«
    »Tu ich nicht, nicht allzu oft jedenfalls. Das weißt du doch, Vicky.«
    Sie goss uns Kaffee nach, und wir saßen eine Zeitlang schweigend da. Der Wind hechelte draußen um das Haus wie ein Hund, der hinter den Ohren gekrault werden will.
    »Würdest du mitkommen, wenn ich wieder nach Europa gehe, Lew?«
    Das war was ganz Neues, etwas, auf das ich überhaupt noch nicht gekommen war, und ich dachte gründlich drüber nach, bevor ich den Kopf schüttelte. Dachte an all die Blues-und Jazzmusiker, an Richard Wright, Himes, Baldwin. »Ich würde mir dort fremder vorkommen als du hier. Amerika hat irgendwas, mit dem ich klarkommen muss, egal wie und auf welche Weise, irgendwas, vor dem ich nicht davonlaufen darf.«
    »Da drüben ist alles ganz anders.«
    »Ich weiß.«
    Sie nickte. »Henry James hat irgendwo geschrieben: ›Amerikaner zu sein ist ein schwe r es Schicksal‹.«
    »War das, bevor oder nachdem er mit voller Absicht und Überzeugung Brite geworden ist?«
    Sie lachte. »Genau.«
    Später, als ich neben ihr lag, hätte ich sie am liebsten gebeten, bei mir zu bleiben, nicht zurückzukehren. Ich wollte ihr sagen, dass die Zeit mit ihr das Schönste war, was ich je erlebt hatte, dass ich mich durch sie wieder dem Menschengeschlecht verbunden fühlte, der ganzen Welt, wie ich das nie zuvor empfunden hatte; dass sie mir das Leben gerettet hatte; dass ich sie liebte. Es gab so vieles , das ich sagen wollte und das doch unausgesprochen blieb.

5
    Gegen halb zehn stand Vicky auf, duschte und zog sich an. Ich lag im Bett und sah zu, wie sie in die weißen Strümpfe schlüpfte, in die gebügelte Hose, die Schwesternbluse. Dieses weiße Zeug hat irgendwas an sich – weil eine Frau darin kaum zu erkennen ist, durch den Reiz der Unschuld und des Verborgenen, den es ausstrahlt –, das uns daran erinnert, wie sehr wir uns gegenseitig auf ewig ein Rätsel bleiben. Wir umkreisen einander, ziehen uns an, bewegen uns noch öfter voneinander weg, genau so, wie wir unsere verworrenen, widerstreitenden Gefühle umkreisen.
    Nachdem sie weg war, stand ich auf, goss mir ein halbes Glas Scotch ein und schaltete, immer noch nackt, den Fernseher ein. Er war auf den PBS-Kanal eingeschaltet, auf dem wir uns vor ein, zwei Wochen eine Oper angesehen hatten. Ein junger Weißer mit Kordsakko, buntem Baumwollhemd und Nickelbrille redete über den Blues.
    »Weil der Sklave nicht sagen konnte, was er meinte«, sagte er, »sagte er etwas anderes. Bald schon sagte er allerlei Sachen, die nicht so gemeint waren. Man kann das Tarnung nennen. Aber das, was er wirklich meinte, das war der Blues.«
    Eine alte Sepiaaufnahme von der Dockery Plantation tauchte am Bildschirm auf.
    »Ein Großteil dessen, was wir über den frühen Country Blues wissen, hatte seinen Ursprung auf dieser Farm in Mississippi. Und von hier stammte auch der erste phänomenale Musiker des Country Blues – Charley Patton.«
    Ein Foto von Patton, mit glatt gestriegelten Haaren, Wangenknochen wie ein Indianer, Kreolenhaut. Im Hintergrund »Some Of These Days«.
    Auf Pattons Foto folgte eine Zeichnung von Robert Johnson, dazu »Come On In My Kitchen«.
    Dann Bessie Smith und der »Empty Bed Blues«, Lonnie Johnson, Bukka White und Son House, Sonny Boy Williamsons »Been So Long« mit einer klagenden, schluchzenden Mundharmonika über einem schnurrenden

Weitere Kostenlose Bücher