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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Tasche ihrer Schwesternbluse war ein großer, gelb-oranger Fleck, quer über der Brust eine Reihe von Blutspritzern, die wie ein Sternbild wirkten.
    »Pfeif auf die Arbeit. Bleib hier bei mir.«
    »Schlimme Nacht?«
    »Hat alles gehalten, was zu erwarten war, und mehr.«
    »Vielleicht solltest du dankbar sein. Heutzutage gibt’s nicht mehr viel, das alles hält, was man davon erwartet.«
    Sie kuschelte sich an mich, holte tief Luft und sagte: »Heute Nacht wurde ein Polizist eingeliefert, Lew. Eine Gang hatte ihn in eine Gasse gelockt, lauter Teenager. Sie haben ihm den Weg abgeschnitten, ihn verprügelt und ihm die Waffe abgenommen, dann hat ihn jeder von ihnen geschändet. Als sie damit fertig waren, haben sie ihn aufgeschlitzt wie ein Schwein, den ganzen Bauch.«
    »Du hast doch schon Schlimmeres gesehn.«
    »Die hatten nicht den geringsten Grund dazu. Sie haben nichts angestellt; er hat sie nicht verfolgt. Sie haben ihn nicht einmal gekannt. Und jemand anders hat am Fenster gestanden und sich alles angeschaut, ehe er auf die Idee kam, Hilfe zu holen. Was ist bloß los mit diesem Land, Lew?«
    »Ich weiß es nicht. Ich hab’s noch nie gewusst.«
    Sie setzte sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen.
    »In den letzten Monaten erstarre ich innerlich jedes Mal, wenn ich den Ruf in die Notaufnahme höre, als ob mir das Herzblut gefriert. Manchmal träume ich, dass ich mich irgendwann dort melde und du da auf der Bahre liegst, den Kopf zu mir herumrollst.«
    »Früher hat es immer geheißen, mein Großvater wäre zu garstig, um zu sterben.«
    »Aber er ist gestorben.«
    »Er kam mir damals nicht besonders garstig vor.«
    »Sterben müssen wir alle, Lew. Ob gnädig, grausam oder teilnahmslos – und das gilt, glaube ich, für die meisten von uns –, wir alle müssen sterben. Der Herr wie der Sklave, die herrschende Klasse und das Proletariat, Auserwählte und Vergängliche gleichermaßen. Aber niemand sollte so sterben müssen wie er – in einer dreckigen Gasse langsam verbluten, während die Kerle, die einem das angetan haben, lachend um einen herumstehen.«
    Danach hielt ich sie eine ganze Weile fest. »Wenn du nicht gewesen wärst, Vicky«, sagte ich schließlich, »wäre ich gestorben. Aber du warst da, und ich habe genau gemerkt, dass du Anteil genommen hast. Und ich war bestimmt nicht der Erste, der das gespürt hat.«
    Tränen rannen ihr über die Wangen. »Ist das etwa alles, was wir tun können, Lew? Bloß die Schmerzen anderer lindern, ein Kissen aufschütteln, die Bettwäsche wechseln, hörst du?«
    »Ist das so wenig?«
    »Nein«, sagte sie, »natürlich nicht. Aber lass mich nicht los, Lew.«
    Hinterher schlief sie neben mir ein, immer noch ganz in Weiß. Ich döste ebenfalls weg und wachte heißhungrig wieder auf.
    Ich zog die Jalousien zu, damit sie weiterschlafen konnte. Suchte leise meine Unterwäsche, Socken, Hemd und Anzug zusammen, schloss die Schlafzimmertür, machte sie noch mal auf und ging meinen Gürtel und die Schuhe holen. Duschte und rasierte mich und zog mich an. Dann ging ich in die Küche und aß zum Frühstück (in Anbetracht der Tageszeit vermutlich eher zu Mittag) übrig gebliebene Quiche und Cremetörtchen. Bei der zweiten Tasse Kaffee klingelte das Telefon, und ich sprang auf, wollte verhindern, dass Vicky gestört wurde, und schmiss meinen Stuhl um. Es war Manny, von dem Kreditunternehmen, der wissen wollte, ob ich heute noch vorbeikäme.
    »Hab ’n ganzen Packen hier liegen, Lew.«
    »’tschuldigung. Hab verschlafen. Bin in zwanzig Minuten da – fünfzehn mit Rückenwind.«
    Ich wollte gerade aufbrechen, als Vicky die Schlafzimmertür öffnete.
    »Sei vorsichtig, Lew«, sagte sie.
    Es war in der Tat ein ganzer Packen. Ich nahm ihn mir vor, sortierte erst die Namen aus, die ich schon von früher kannte – das waren diejenigen, bei denen man nur kurz aufkreuzen und ohne große Umstände abkassieren konnte –, dann die in den Außenbezirken. Nach etwa einer halben Stunde war mir klar, dass ich rund eine Woche Arbeit vor mir hatte, und sagte Manny Bescheid.
    »Na und? Jeder andere, den wir bislang hatten, hätte drei Wochen dafür gebraucht. Vermutlich wären die meisten beim bloßen Gedanken daran in Ohnmacht gefallen oder heim zu ihrer Mama gelaufen. Zieh los, Lew, und komm nicht wieder, eh du fertig bist.«
    »Mit barer Kohle natürlich.«
    »Oder einem Scheck, wenn er denn halbwegs gedeckt ist.«
    »Danke, Manny.«
    Ich war schon fast aus der Tür, als er sagte: »Ich

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