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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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hab gehört, dass deine Frau weg will, Lew.«
    »Kann schon sein. Woher weißt du das?«
    Er zuckte die Achseln und stützte die Hände auf die Schreibtischplatte. »Die Leute reden miteinander. So was spricht sich rum. Du weißt schon.« Er blickte auf und schaute mich mit großen Augen durch seine Brille an. »Sie ist was ganz Besonderes, was?«
    »Sind sie das nicht alle?« Dann, beschämt: »Ja. Das ist sie.«
    »Viel Glück, Lew. Hoffentlich geht das gut aus. Du hast es verdient.«
    »Danke. Hey, kann ich jetzt dein Geld eintreiben gehen?«
    »Jederzeit. Meins und das von all den andern, die dir zufällig über den Weg laufen. Ich halte dich bestimmt nicht auf.«
    Ich klemmte mich volle zehn Stunden dahinter. Kassierte insgesamt 4617 Dollar ein. Manny kriegte vierzig Prozent von den Gesamteinnahmen. Ich bekam zehn Prozent von Mannys Anteil. Ein kurzer Leitfaden zum Kapitalismus.
    Vicky war bereits zur Arbeit gegangen, als ich nach Hause kam. Sie hatte eine Nachricht am Kühlschrank hinterlassen: Toller Morgen. Du hast mir heute Nacht gefehlt. Schlaf schön. Tschüss . Sie hatte einen Auflauf in die Röhre gestellt; auf dem Herd stand ein Topf mit Suppe, daneben lag frisches Brot, das in ein warmes Tuch eingeschlagen war.
    Auf dem Nachttisch stieß ich auf das Buch, das sie derzeit las. Steifer gelber Umschlag, Titel und Autor in schwarzen Buchstaben, aber keinerlei Klappentext oder Illustrationen. Ich schlug es aufs Geratewohl auf und las, übersetzte es Wort für Wort:
    »Obwohl es nur ein Herbstsonntag war, war ich wiedergeboren worden, lag das Leben unversehrt vor mir, denn an diesem Morgen war nach einer Reihe milder Tage ein kalter Nebel gefallen, der sich erst kurz vor Mittag auflöste; und eine Wetterveränderung genügt, um die Welt und uns selbst neu zu schaffen.«
    Wenn das nur wahr wäre, dachte ich. Wenn es nur irgendwas gäbe, mit dem man die Welt und uns selbst neu erschaffen könnte.
    Ich dachte daran, wie ich erst vor ein paar Monaten am Fluss entlangspaziert war und mir die Worte Tabula rasa und Palimpsest durch den Kopf gegangen waren.
    Doch die Welt ändert sich nicht, und wir zumeist ebenso wenig. Wir schauen bloß weiter in den gleichen Spiegel, probieren unterschiedliche Hüte und Mienenspiele, versuchen es mit neuen Untugenden, Meinungen und Vorurteilen; tun so, genau wie Kinder, als könnten wir Dinge sehen und spüren, die gar nicht da sind.
    In dem Ort, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, gab es, wie in den meisten Kleinstädten im Süden, eine ganze Reihe Säufer. Eine Menge Leute tranken, manche ziemlich heftig, aber trotz der vielen anderen – derjenigen, die immer und ewig, ständig torkelnd und grantelnd die Straßen entlangzogen (viele Jahre lang unbefestigt, dann mit Kies bestreut und schließlich asphaltiert); der Übrigen, deren Kleidung ebenso fadenscheinig wie gnadenlos sauber war und die fast jeden Abend und an den meisten Wochenenden einen sitzen hatten – gab es immer einen, über den alle redeten. Fast so, als habe er ein hohes Ehrenamt inne oder stelle so was Ähnliches dar wie die afrikanischen Griots , Sonderlinge, die in ihrer Kultur eine wesentliche Rolle spielten und doch verachtet wurden. Die Griots der senegambischen Gesellschaft sangen Lobpreisungen auf die Anführer ihrer Dorfgemeinschaft, lernten die Geschichten über Herkunft und Abstammung ihres Volkes auswendig und gestalteten sie zu großen Epen, die schließlich in die mündliche Überlieferung ihrer Kultur eingingen, sangen und spielten in Gruppen zu vorgegebenen Rhythmen, nach denen die Bauern und alle anderen ihre Arbeit verrichteten. Doch wenn ein Griot starb, durfte er nicht inmitten der geachteten Mitglieder der Gemeinschaft bestattet werden. Stattdessen schaffte man seinen Leichnam in einen hohlen Baum und ließ ihn dort verfaulen.
    In meiner Heimatstadt war ein Friseur derjenige, über den alle redeten, »ein verdammt guter Friseur«, wie sie kopfschüttelnd sagten, »wenn er nur die Finger von der Flasche lassen könnte«. (»Und von der Tusse«, fügten andere hinzu.) Ich habe als kleiner Junge immer mit seinem Sohn gespielt – heute ist er Lehrer –, weil wir beide weit außerhalb der Stadt wohnten und die Kluft zwischen Schwarz und Weiß immer verschwommener wurde, je weiter man aufs Land kam. Außerdem hatten wir beide so gut wie keine anderen Spielkameraden.
    Jedenfalls kam Jerrys Vater eines Tages stocknüchtern von der Arbeit nach Hause und sagte, er ginge eine Weile weg, um über

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