Stiller Zorn: Roman (German Edition)
Bass.
»Big Joe Williams«. Ganzer Bildschirm, dann nur noch im linken oberen Viertel eingeblendet, neben Kordjacke und Nickelbrille. »Er erklärte einst einem Interviewer, dass all die jungen Kerle etwas falsch verstanden hätten. Sie versuchten in den Blues einzudringen, sagte er, wo doch der Blues dazu da wäre, dass man heraus kommt – heraus aus den sechzehn bis achtzehn Stunden Arbeit, die man Tag für Tag leisten musste, heraus aus den Bedingungen, unter denen man lebte, aus dem, was man selbst und seine Kinder zu erwarten hatte, heraus aus allem, was einem ständig nur weh tat.«
Ganz leise hinter ihm ein schwungvoll gezupfter Ragtime von Blind Blake, der zu Blind Willie Johnsons »Dark Was The Night« überleitete.
»Danach entwickelte sich der Blues letztendlich zu einer weiteren Form der Tarnung, einer weiteren Möglichkeit, nicht das zu sagen, was man meinte. Zu einem ›sicheren‹ Mittel, durch das man sich mit seinem Ärger und Schmerz, der Enttäuschung, Wut und persönlichem Verlust befassen konnte. Der Blueser, der davon singt, dass ihm seine Liebste den Laufpass gegeben hat, äußert sich nicht über das Ende einer Beziehung, er beklagt vielmehr, dass er nicht Herr über sein Leben und seine Person ist.«
Ich schaltete den Fernseher aus, goss mir einen weiteren Scotch ein und versuchte darüber nachzudenken, wie es ohne sie wäre. Ging raus auf den Balkon und verfolgte den Vorbeimarsch der Armseligen und Abgehalfterten unten auf der Straße. Die Mischung aus kühler Außenluft und innerer Wärme vom Whiskey wirkte aufmunternd, anregend. Der morgige Tag würde mir nur Gutes bringen. Vicky würde nicht abreisen.
Ich hatte den Fernseher gerade wieder eingeschaltet (ein Dschungelfilm), als das Telefon klingelte. Sansom war dran und wollte wissen, ob ich in letzer Zeit was von Jimmi gehört hätte.
»Gestern Abend. Gibt’s irgendwas Besonderes?«
»Er ist heute Abend nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen. Vor etwa einer Stunde habe ich in der Tagesstätte angerufen. Er hat sich dort den ganzen Tag nicht blicken lassen. Ich habe ein paar Leute losgeschickt, die sich erkundigen sollen.«
»Hoffentlich erfahren sie was.«
»Hat er erregt gewirkt, als Sie mit ihm gesprochen haben, Lew?«
»Nein. Eher ruhig. Wollte bloß wissen, ob ich schon irgendwas rausgefunden hätte.«
»Haben Sie das?«
»Eigentlich nicht. Ein Haus, in dem ein zurückgebliebener Junge wohnt, den sie immer besucht hat. Schon komisch – der Junge ist heute ebenfalls weggelaufen.«
»Irgendwas muss in der Luft liegen!«
»Die Russen womöglich. Oder Fluorid – ja, Senator?«
»Vermutlich. Aber ich habe eine reine Weste. Ich habe immer gegen die Russen, die Sünde und Fluoridbeigaben gestimmt, seitdem mich die braven Bürger von Loui-si-ana in mein Amt gewählt haben.«
Dann wurde er wieder ernst.
»Sie sagen mir doch Bescheid, wenn Sie irgendetwas hören, Lew?«
»Wird gemacht.«
»Gut, Mann. Wie läuft’s so?«
»Okay. Vicky geht vielleicht nach Europa zurück.«
»Aha? Gehen Sie mit?«
»Ich glaube nicht.«
»Sollten Sie sich überlegen. Da drüben ist alles anders. Ich muss los, Lew. Leute, die der Schuh drückt. Bis später.«
Die eingeborenen Träger am Bildschirm ergriffen die Flucht, warfen ihre Körbe und Rucksäcke weg und ließen die Safari im Stich. Der Bwana gab einen Schuss in die Luft ab und schrie sie in Pidgin-Englisch an.
Ein paar Minuten später rief Vicky an, wollte gute Nacht sagen und mir mitteilen, dass es bei ihnen zuging wie im Tollhaus. »Und die Nacht hat gerade erst angefangen«, sagte sie.
Ich schaltete den Fernseher aus (Elefanten, Löwen und Schlangen) und ging wieder zu Bett, konnte aber nicht schlafen. Stand auf und ließ mir eine Wanne Wasser ein. Zu viele Sachen trampelten, pirschten und schlängelten in meinem Kopf rum.
Etwa eine Stunde später wachte ich auf, steckte bis zum Hals im kalten Wasser.
Ich zog den Stöpsel, trocknete mich ab und genehmigte mir einen weiteren Schuss Scotch. Es war kurz vor zwei. Kaum dass ich am Kissen horchte, träumte ich auch schon.
Am nächsten Morgen sah ich Licht, jede Menge sogar, und rote Haare, auch davon jede Menge. Dann Vickys Gesicht, dicht neben meinem. »Raus aus den Federn und rein ins Leben. Oder wenigstens raus aus den Federn. Hoch mit dir. Es ist heller Tag. Die Arbeit ruft. Erinnerst du dich?«
»Behandelst du so deine Patienten?«
»Weißt du das nicht?«
Sie legte sich in ihrer weißen Kluft neben mich. Auf der
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