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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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hatte volle, schlaffe Lippen und schaute einen mit großen Augen an, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Er redete nicht, sondern gurrte nur leise vor sich hin.
    »Wann haben Sie Cherie zum letzten Mal gesehen, Mister Baker?«
    »Sie ist letzte Woche vorbeigekommen, bloß auf ein paar Minuten. Hat gesagt, sie kann nicht lang bleiben, weil sie ein Vorstellungsgespräch hat, aber sie hätte Denny so vermisst.«
    »Hat sie gesagt, ob sie irgendwann wieder vorbeikommen will?«
    »Ein, zwei Tage, hat sie gesagt. Das is am Donnerstag gewesen. Ich nehm an, sie ist eingespannt, auf ihrer neuen Arbeit vielleicht oder so, was?«
    »Wenn sie wieder hierherkommt, Mister Baker, würden Sie mich dann anrufen?«
    »Sie sind ein Freund von Ihrem Bruder, haben Sie gesagt?«
    »Ja, Sir. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen seine Telefonnummer geben.«
    Er schaute mich eine Zeitlang an. »Ich brauche seine Nummer nicht«, sagte er. »Wenn man mit jemand wie Denny zusammenlebt, jemand, der einem nicht sagen kann, was in ihm vorgeht, lernt man Sachen, von denen die meisten Menschen keine Ahnung haben. Ich seh Ihnen am Gesicht an, dass Sie leiden, durcheinander sind. Schon seit einer ganzen Weile. Aber ich sehe auch, dass Sie es gut meinen und dass Sie mir die Wahrheit sagen.«
    Ich nickte, und er versprach mir, dass er mich anrufen würde, wenn Cherie sich wieder blicken ließ. »Die kommt wieder«, sagte er. »Ist bloß eine Frage der Zeit.«
    Ist doch immer so, dachte ich und fuhr in die Stadt zurück.
    Vicky war zu Hause, saß mit einem Glas Gin Tonic auf der Couch. Sie hatte die Hose ausgezogen, aber die Schwesternbluse, das Höschen und die weißen Strümpfe angelassen. Diese weiße Tracht hat sowieso irgendwas Aufreizendes an sich, und ihre blasse Haut und die roten Haare betonten das Ganze noch.
    »Posierst du fürs Penthouse ?«
    »Für dich«, sagte sie und hob ihr Glas. »Möchtest du etwas trinken?«
    »Ich hol mir was. Du siehst müde aus.«
    »Ich habe einen schrecklichen Tag hinter mir. Ein Mann, der bei uns in ambulanter Behandlung war, ist gestorben, einfach mitten auf dem Flur zusammengebrochen, vor den Augen seiner Angehörigen und aller anderen Patienten. Danach hat mir die Oberschwester, der ich unterstellt bin, den ganzen Nachmittag damit in den Ohren gelegen, dass wir auf Quoten und Kostenfaktoren achten müssen, während ich kaum mit der Arbeit nachkomme.«
    Ich besorgte mir ebenfalls was zu trinken, und wir nahmen beide einen Schluck, dann fuhr sie fort, und ihre Worte fügten sich wie immer zu natürlichen Kadenzen, so melodiös und einschmeichelnd, dass man darin versinken, die ganze Sinnlichkeit dieser Sprache hätte auskosten mögen, völlig losgelöst war von Inhalt und Aussage.
    »Für die sind die Patienten nur noch ›Einheiten‹. Ein akuter Fall fünfundzwanzig Einheiten, ein Patientenbad zwei Einheiten, eine Infusion eine Einheit, und so weiter und so fort.« Sie trank einen Schluck. »Da kommt man sich doch vor wie in einer Fabrik, nicht wahr?«
    »Sollte es so sein?«
    »Das geht nicht. Weil sich die Bedingungen ständig ändern, der Zustand der Patienten, ihre Bedürfnisse. Das lässt sich nicht so einfach in Planvorgaben fassen.«
    »Aber die Manager, diese neue, mächtige und immer weiter anwachsende Klasse, müssen doch irgendwas zu tun haben.« Ich verstellte meine Stimme, versuchte mich an einer Mischung aus Amos und Andy und Sechziger-Jahre-Gesülz. »Wenn die Revoluzjon kommt, sin die mit die Aktenkoffer die Ersten, die erschossen werden.«
    Vicky war nicht nach Kochen zumute, wir beide wollten was essen, und im Kühlschrank war nur noch ein labbriger Überrest von einer alten Lasagne. Was darauf hinauslief, dass wir entweder etwas bei Yum Yum’s bestellten, dem Chinarestaurant ein paar Straßen weiter, das außer Haus lieferte, oder irgendwo essen gingen. Wir tranken noch ein Glas und überlegten uns die Sache. Der bloße Gedanke an die fettigen Pappkartons mit dem Essen aus dem Yum Yum’s (so ähnlich wie die, in denen wir früher die Ölsardinen aus dem Laden nach Hause getragen hatten) erleichterte uns die Entscheidung gewaltig.

4
    Wir gingen ein Stück zu Fuß und landeten in einem kreolischen Café, das von einem immer gleich alt aussehenden Cajun und seiner Familie bewirtschaftet wurde. Zwei Kinder zwischen neun und zehn brachten die Gäste zu ihren Plätzen und räumten die Tische ab; ein Mädchen um die dreizehn bediente. Das Speiseangebot war mit weißer Kreide auf einer

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