Stiller Zorn: Roman (German Edition)
an.
»Sie können in unserem Gästezimmer unterkommen, solange Sie’s brauchen.«
»Oh, das kann ich nicht annehmen, Mister Griffin.«
»Lew.«
»Das liegt bei Ihnen«, sagte Vicky. »Aber das Zimmer steht zur Verfügung, wenn Sie wollen. Wir haben es noch nie gebraucht.«
»Ich weiß, wie es ist, wenn man nichts und niemand hat, wohin man sich wenden kann, Cherie. Ich hab’s schon mitgemacht. Und Vicky weiß auch Bescheid. Sie ist in einem Waisenhaus in Frankreich aufgewachsen.«
Cherie zupfte sich eine der Weintrauben ab, die mitten auf dem Obstteller lagen.
»Als wir noch klein waren, hatten unsere Eltern eine kleine Gartenlaube hinten im Hof, bloß vier weiß gestrichene Pfosten, ein bisschen Hühnerdraht und Querlatten, dazu ein paar Weinranken. Am Baum daneben war unsere Schaukel, eigentlich eine Tür, die Papa an Stahlseilen aufgehängt hat, und Jimmi und ich haben immer links und rechts auf der Schaukel gesessen und uns mit Traubenkernen bespuckt. Ich habe lange nicht mehr dran gedacht.«
»Ich muss jetzt wirklich abzischen«, sagte Vicky. »Cherie, Sie nehmen sich bitte alles, was Sie brauchen. Gehst du heute zur Arbeit, Lew?«
»Ich glaube, ich hau mich erst mal aufs Ohr. Danach sehn wir weiter.«
»Dann rufe ich dich nicht an. Au r evoi r.«
Sie beugte sich runter und schmiegte sich an mich. Ich fragte mich, wie es ohne sie sein würde, was ich ohne sie machen würde. Es war, als ob man sich eine Welt ohne Bäume und Wolken vorstellte.
»Ich räume ab, Mister Griffin.«
»Lew. Aber ich übernehme das.«
»Mir wär’s wirklich lieber, wenn ich was zu tun hätte, wenn Sie nichts dagegen haben, Mister Griffin. Gehn Sie inzwischen schon mal schlafen.«
»Ganz bestimmt?«
Sie nickte.
»Dann dürfen Sie ran. Hören Sie mal: Solange Sie hier sind, ist das auch Ihre Wohnung. Sie können kommen und gehen, wie es Ihnen passt, wenn Sie irgendwas brauchen, nehmen Sie’s sich bitte, und wenn Sie was nicht finden, fragen Sie. Brauchen Sie Geld?«
»Ich habe … einen Vorschuss, von den Leuten, bei denen ich arbeiten wollte.«
»Okay. Dann gute Nacht, Cherie.«
»Gute Nacht, Lew. Bon soir – ist das richtig?«
»Absolut.«
Ich duschte, legte mich hin und horchte auf das leise Klirren und Scheppern der Teller und Pfannen, hörte gelegentlich Wasser rauschen. Meine Kindheit kam mir in den Sinn – als ich schon im Bett steckte und anderswo, wie auf einem fernen Planeten, das Familienleben weiterging.
Kurz darauf waren Geschirr und Küchendienst erledigt, und der Fernseher ging an. Irgendwelche Nachrichten über Abrüstungsverhandlungen, glaube ich; das Wetter weiterhin kalt und trüb; eine ziemlich menschelnde Reportage über Zwillinge in Polen und Gary, Indiana. Ein alter Film mit Zombies, Diplomaten, verschleppten russischen Adligen und brünstigen amerikanischen Teenagern.
Ich schlief ein, wachte irgendwann wieder auf und hörte jemand schluchzen. Ging ins Wohnzimmer, wo eine Talkshow lief und Cherie halbnackt auf der Couch schlief und vor sich hin träumte. Spürte die tiefe Kluft zwischen uns und fühlte mich so einsam wie lange nicht mehr.
Sie schluchzte im Traum vor sich hin. Ich kam mir vor, wie sich vermutlich alle Eltern vorkommen, wollte sie um jeden Preis beschützen, war bereit, ihr alles, jede Lüge zu erzählen, damit sie ruhig weiterschlafen konnte, sie trösten, wenn sie aufwachte. Aber Eltern, alle Eltern, erleben auch, dass das nicht geht. Sie machen die Erfahrung, dass wir eigentlich nur die Grundzüge dessen, was die Menschen miteinander verbindet, weitergeben können – das Wissen darum, dass wir alle Schmerz empfinden und dass jede Entscheidung schwer und auf ihre Art auch endgültig ist.
Ich holte ein paar Bettlaken aus dem Schrank und deckte sie zu, schaltete den Fernseher aus und ging wieder zu Bett.
Entweder ist es tatsächlich so, dass wir nur leben können, wenn wir eine Beziehung eingehen, oder wir bilden uns das bloß ein, damit wir überhaupt eine Beziehung eingehen können. Wir wollen nicht bloß überleben, sondern suchen auch einen Anreiz dazu, zum Beispiel Liebe, damit wir uns getrost zum Überleben verleiten lassen können.
Ich träumte, dass Martin Luther King Black No More las. Tränen liefen ihm übers Gesicht – wie Regentropfen an einem Fenster, hinter dem Gelächter schallt.
Irgendwann war Vicky da, murmelte irgendwas von wegen Croissants. Später schliefen wir miteinander, und noch später (glaube ich) stand irgendwie eine Tasse Kaffee neben
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