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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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lieblichen Sees, dessen hügelige Ufer nicht von Fabriken, jedoch von Villen verschandelt sind, und da wir gestern auf unserm Bummel so freundliches Wetter hatten, September-Bläue mit leichtem Silberdunst, war ich wirklich entzückt, nicht bloß Frau Julika zuliebe, deren großherzige Kaution allwöchentlich einen solchen Ausflug ermöglichen soll, vorausgesetzt freilich, daß ich immer pünktlich in mein Gefängnis zurückkehre. Mein diesbezüglicher Eid, den ich meinem Verteidiger haben schwören müssen, um zu verhüten, daß er uns begleitet, bindet mich übrigens weniger als die natürliche Rücksicht auf Julika; wenn ich abhaue, verliert sie eine Summe, die ich ihr nie würde erstatten können. Übrigens: ein oder zwei Whisky sind erlaubt! Sie sieht einfach großartig aus, diese Frau, ich denke es immer wieder, ihr lichterlohes Haar in der Sonne, das weiße Pariser-Hütchen drauf, ihre grazile Gestalt, ich bin einfach entzückt.
    Einmal, da ich sie wieder in einem Schaufensterspiegel sehe, kann ich nicht umhin, mich zu drehen, fasse ihr Kinn und küsse sie.
    »Du«, sagt sie, »wir sind in Zürich!«
    Vor allem entzückt mich die Lage ihres Städtchens, das auf beiden Seitenvon gelassenen Hügeln umarmt wird, von natürlichen Wäldern, die zu ländlichen Wanderungen locken, und in der Mitte glitzert ein grünes Flüßchen, das die Richtung nach den großen Ozeanen verrät (wie allerdings jedes Gewässer) und daher stets etwas Lebendiges erweckt, Sehnsucht nach Welt, nach Küsten. Drei Wochen in Zürich zu verbringen, wenn man nicht im Gefängnis wohnt, muß köstlich sein, gerade in dieser Jahreszeit. Es gibt denn auch, wie man auf den Straßen hört, allerlei Fremde. Nicht umsonst hat Zürich ein blauweißes Wappen; in dem blanken Licht seiner Föhnbläue, die, vom Weiß der Möwen verziert, auch dem Einheimischen viel Kopfweh verursachen soll, hat dieses Zürich tatsächlich einen eigenen Zauber, ein ›cachet‹, das mehr in der Luft zu suchen ist als anderswo, einen Glanz einfach in der Atmosphäre, der in seltsamem Widerspruch steht zum Griesgram wenigstens der einheimischen Physiognomien, und etwas geradezu Festliches, etwas Klingendes, etwas Schmuckes und Adrettes wie sein Wappen, etwas Blauweißes ohne viel besondere Merkmale. Es ist, so könnte man vielleicht sagen, eine Stadt, deren Reiz vor allem die Landschaft ist, und jedenfalls versteht man die Fremden, die am Quai aussteigen und knipsen, bevor sie weiterreisen nach Italien, und man versteht auch die Einheimischen, die stolz darauf sind, wenn man viel knipst. Ihr schmaler See, etwa von der Breite des Mississippi, blinkt wie eine krumme Sense in das grüne, das hügelwogende Land hinaus. Auch an Werktagen wimmelt es von kleinen Seglern. Bei aller Geschäftigkeit hat dieses Zürich, Treffpunkt der Kaufleute, etwas Kurorthaftes. Die Alpen sind zum Glück nicht so nahe wie auf den Ansichtskarten; in geziemender Ferne krönen sie das Gewoge der Vorberge, ein Gischt aus weißem Firn und bläulichen Gewölken. Vielleicht hat mir Julika nicht die wirklichen Viertel gezeigt; in der Erinnerung fällt mir auf, daß wir keinen einzigen Bettler getroffen haben, auch keine Krüppel. Die Leute sind zwar nicht mit Eleganz, jedoch mit Qualität gekleidet, so daß man nie Mitleid haben muß, und die Straßen sind sauber von Morgen bis Abend. Unbehelligt von Bettlern, wie gesagt, und unbehelligt von besonderen Baudenkmälern, die uns aus dem Gespräch reißen würden, schlendern wir fast eine Stunde lang. Die Art und Weise, wie sie den modernen Verkehr zu regeln versuchen, ist für einen Fremden nicht ohne weiteres zu verstehen; dabei geben sich die Gendarmen die größte Mühe und wirken sehr ernst, und vor allem geht es ihnen um die Gerechtigkeit, scheint es, weniger um den Verkehr; an jeder Straßenkreuzung fühlt man sich einer Art moralischer Erziehung unterworfen.Je näher man wieder zum See kommt, wo die Fremden gewissermaßen ihre eigenständige Atmosphäre schaffen, die sie dann für die Atmosphäre von Zürich halten, um so weniger fällt es auf, wenn man fröhlich ist und auf offener Straße etwa lacht; auch Julika, merke ich, wird in dieser Gegend wieder freier, und ich kann sie mir vorstellen, wie sie in Paris ist. Ihre Mama war Ungarin, aber Zürich ist ihre Vaterstadt, und es ärgert Julika in einem unverhältnismäßigen Grad, wenn der Stadtrat von Zürich versagt, indem er, zum Beispiel, Charlie Chaplin nicht empfängt. Sie redet eine Viertelstunde

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