Stiller
doch fragen.
»Glücklich!« sagt sie, »was heißt glücklich –«
Sehr merkwürdig: irgendwie kann Frau Julika Stiller-Tschudy es nicht haben, wenn ich sie für gesund und glücklich halte, sofort kommt sie wieder mit Davos, mit ihrer zweifellos sehr schrecklichen Zeit in jener einsamen Veranda mit olivgrüner Jugendstil-Verglasung, wo Stiller, ihr verschollener Mann, sie einfach im Stich gelassen hat. Ich höre es mir nochmals an. Ich sehe, ohne die Schrecklichkeit des Vergangenen anzuzweifeln, ihre so blühende Gegenwart mit dem eigentümlichen Gesicht, durch den Widerschein auf dem Tischtuch von unten erhellt, so wie ein Gesicht im Rampenlicht. Ich sehne mich nach ihr. Ich warte drauf, daß sie aus der Vergangenheit, der sie verzeihen will und zum Zwecke des Verzeihens ganz genau ausmalen muß, endlich zur Gegenwart unseres ohnhin befristeten Nachmittags kommt.
»Meine liebe Julika«, sage ich, »die ganze Zeit redest du mir, wie scheußlich dein Stiller sich benommen hat. Wer bestreitet das denn? Er hat dich krank gemacht, behauptest du, krank auf den Tod, er hat dich liegen lassen, du hättest sterben können, und trotzdem, sehe ich, suchst du nur ihn – Kannst du es ihm einfach nicht gönnen, daß du nicht wirklich gestorben bist, sondern hier sitzest als eine blühende Person?«
Das war kein Scherz, nein, ich merkte es selbst. Ohne mich anzublicken, holte Julika etwas aus ihrer weißen Pariser Handtasche, ein vergilbtes Brieflein. Offenbar zur Widerlegung meiner Rede! Es handelte sich um ein Brieflein, das Stiller, der Abscheuliche, ihr seinerzeit nach Davos ins Sanatorium geschickt hatte, ich sollte es lesen, eigentlich nur ein Zettelchen, ein mürbes Papier, ein Blatt aus einem Notizblock, kariert, beschrieben mit flüchtigen Bleistift-Zügen, die mich als Schrift eher befremden, ja abstoßen.
»Und?« fragte ich etwas betreten.
Sie rieb sich hastig, so hastig, daß es mehrmals knickte, ein Streichholz an. Ein Kommentar zu diesem Textchen, dem letzten, den sie von ihrem verschollenen Stiller bekommen hatte, schien ihr überflüssig. Sie rauchte.
»Julika«, sagte ich und gab ihr das mürbe Zettelchen zurück, »ich liebe dich –«
Sie lachte tonlos, matt, ungläubig.
»Ich liebe dich –«, wiederholte ich und wollte einiges sagen, was nichtihre oder meine Vergangenheit, sondern unsere Begegnung betraf, meine Empfindungen in dieser Stunde, meine Hoffnungen über diese Stunde hinaus; aber sie hörte mich nicht. Auch wenn sie schwieg, hörte sie mich nicht, sie stellte nur die Pose einer aufmerksamen Zuhörerin. Ihr Geist war in Davos, man sah es, und während meiner Rede begann sie sogar zu weinen. Ich fand es nun ebenfalls traurig, daß zwei Menschen, obzwar sie einander gegenübersitzen, Aug in Auge, einander nicht wahrzunehmen vermögen. »Julika?« rief ich sie bei ihrem Namen, und endlich drehte sie ihr schönes Gesicht zu mir. Aber sie sah mich nicht, sondern Stiller! Ich ergriff ihre schlanke Hand, damit sie erwachen würde. Sie gab sich Mühe, mir zuzuhören. Sie lächelte, sooft ich ihr meine Liebe beteuerte, und sie hörte mich an, mag sein, doch ohne zu hören, was ich hätte sagen wollen. Sie hörte nur, was Stiller, hätte er jetzt auf meinem Sesselchen gesessen, vermutlich gesagt haben würde. Es war schmerzlich für mich, dies zu spüren. Eigentlich könnte man nur verstummen! Ich blickte auf ihre nahe Hand, die ich unwillkürlich losgelassen hatte, und mußte an den ungeheuerlichen Traum mit den Wundmalen denken. Julika bat mich, weiterzusprechen. Wozu? Auch ich fühlte mich plötzlich recht hoffnungslos. Jedes Gespräch zwischen dieser Frau und mir, so schien mir, ist fertig, bevor wir’s anfangen, und jede Handlung, die mir jemals einfallen mag, ist schon im voraus gedeutet, meinem augenblicklichen Wesen entfremdet, indem sie in jedem Fall nur als eine angemessene oder unangemessene, eine erwartete oder unerwartete Handlung des verschollenen Stiller erscheinen wird, nie als die meine. Nie als die meine! ... Als ich dem Kellner winkte, sagte sie sofort mit zärtlicher Besorgtheit: »Du solltest nicht so viel trinken! ...«
Bei diesen Worten, offen gestanden, zuckte ich zusammen und mußte mich beherrschen. Was stellte diese Dame sich vor? Erstens hatte ich gar nicht mehr trinken wollen. Und wenn schon! Sie glaubte wohl, sie könnte mich wie ihren Stiller behandeln, und einen Augenblick lang hatte ich Lust, aus purem Trotz einen weiteren Whisky zu trinken. Ich tat es nicht.
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