Stiller
Denn Trotz ist das Gegenteil von wirklicher Unabhängigkeit. Ich lächelte. Sie tat mir leid. Ich begriff: ihr ganzes Verhalten bezieht sich nicht auf mich, sondern auf ein Phantom, und einmal mit ihrem Phantom verwechselt (denn wahrscheinlich hat es den Mann, den sie sucht, gar nicht gegeben!), ist man einfach wehrlos; sie kann mich nicht wahrnehmen. Schade! dachte ich.
»Nimm es nicht übel«, sagte sie, »aber du solltest wirklich nicht so viel trinken. Ich meine es ja nur gut.«
Leider ließ der Kellner auf sich warten.
»Ich wollte nichts bestellen«, sagte ich mit etwas müder Auflehnung – und Julika lächelte, so daß ich fast etwas gereizt hinzufügte, »du irrst dich, meine Liebe, ich wollte wirklich nichts bestellen, ich wollte zahlen! – leider habe ich kein Geld ...« Unterdessen aber, als hätte sie auch dies nicht anders erwartet, hatte Julika bereits ihr rotes Saffian-Portemonnaie (wie sie es offenbar bei Stiller öfter hat tun müssen) unter meinen Ellbogen geschoben, damit ich zahlen konnte. Was sollte ich tun! Ich zahlte. Dann gab ich ihr das rote Saffian-Portemonnaie zurück, nahm mich zusammen und sagte:
»Gehen wir!«
Schlag sechs Uhr wieder im Gefängnis.
PS.
Das ist es: ich habe keine Sprache für die Wirklichkeit. Ich liege auf meiner Pritsche, schlaflos von Stundenschlag zu Stundenschlag, versuche zu denken, was ich tun soll. Soll ich mich ergeben? Mit Lügen ist es ohne weiteres zu machen, ein einziges Wort, ein sogenanntes Geständnis, und ich bin ›frei‹, das heißt in meinem Fall: dazu verdammt, eine Rolle zu spielen, die nichts mit mir zu tun hat. Anderseits: wie soll einer denn beweisen können, wer er in Wirklichkeit ist? Ich kann’s nicht. Weiß ich es denn selbst, wer ich bin? Das ist die erschreckende Erfahrung dieser Untersuchungshaft: ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit!
Heute, beim Duschen, fehlt der kleine Jude, dem ich mich zwecks Einseifen der Rücken verbunden habe. Auf meine Bemerkung, daß ich ihm die Freiheit gönne, ziehen sie nur die Augenbrauen. Er war ein kluger Mann, und das Gerücht, daß er Selbstmord begangen habe, beschäftigt mich sehr. Natürlich sind wir trotzdem eine Gruppe von zehn Leuten, und hätte man sich nicht den Rücken geseift, wäre mir sein Abgang wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen. Es ist auch nicht so, daß er mir fehlt. (Die Seiferei war mir immer irgendwie peinlich.) Es beschäftigt mich, daß es immer wieder gerade kluge Menschen sind, die den Tod nicht erwarten können, und wenn ich an seine nicht nur klugen, sondern auch um Geheimnisse wissenden Augen denke, scheint es unglaublich, daß dieser Mann nicht wußte, was ihn jetzt erwartet. Jetzt bilde ich mir sogar ein, er wäre der einzige gewesen,dem ich meine Erfahrung hätte mitteilen können – die sonst kaum mitteilbare Begegnung mit meinem Engel.
Wieder einmal das bekannte Gefühl: fliegen zu müssen, auf der Brüstung eines Fensters zu stehen (in einem brennenden Haus?) und keinerlei Rettung zu haben, wenn nicht durch plötzliches Fliegen-Können. Dabei die Gewißheit: Es hilft gar nichts, sich auf die Straße zu stürzen, Selbstmord ist Illusion. Das bedeutet: fliegen zu müssen im Vertrauen, daß eben die Leere mich trage, also Sprung ohne Flügel, einfach Sprung in die Nichtigkeit, in ein nie gelebtes Leben, in die Schuld durch Versäumnis, in die Leere als das Einzigwirkliche, was zu mir gehört, was mich tragen kann ...
Zweites Heft
Mein Verteidiger hat die bisherigen Aufzeichnungen gelesen und ist nicht einmal wütend, sondern schüttelt nur den Kopf. Damit könne er mich nicht verteidigen, sagt er und steckt das Heft nicht einmal in seine Mappe –
Ich protokolliere dennoch weiter.
(Mit seiner lieben Zigarre im Mund.)
Die Beziehung zwischen der schönen Julika und dem verschollenen Stiller begann mit der Nußknacker-Suite von Tschaikowsky (zum Verdruß der jungen Tänzerin bezeichnete Stiller, ebenfalls noch jung, dazu beflissen, der schönen Julika irgendwie Eindruck zu machen, diese Musik als Seifenblasenzauber, als virtuose Impotenz, als illuminierte Limonade, als Kitsch für Vorgerückte usw.), und es blieb, nach Julikas jüngsten Andeutungen zu schließen, eine Nußknacker-Suite über all die Jahre ihrer Ehe. Julika war damals beim Ballett. Auf einem alten Foto, das sie mich vorgestern beiläufig hat sehen lassen, erscheint sie als Page oder Prinz, glückselig in einer Verkleidung, die ihr in der Tat aufs entzückendste
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