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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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steht; man kann sich kaum sattsehen an ihrer ephebenhaften Grazie von damals. In ihren großen und ungemein schönen, scheinbar so offenen Augen war damals, im Gegensatz zu heute, eine merkwürdige Verschüchterung, etwas wie ein Schleier von heimlicher Angst, sei es nun Angst in bezug auf ihr eigenes Geschlecht, wovor die entzückende Verkleidung sie doch nur zeitweisezu bewahren vermochte, oder Angst in bezug auf den Mann, der da irgendwo jenseits der Kulissen auf die Preisgabe ihrer silbernen Verkleidung warten mochte. Julika war damals dreiundzwanzigjährig. Jeder einigermaßen erfahrene Mann – Stiller war es offenbar durchaus nicht – hätte in diesem so faszinierenden Persönchen ohne weiteres einen Fall hochgradiger Frigidität erkannt, mindestens auf Anhieb vermutet und seine Erwartung danach geregelt. Im Ballett war Julika damals eine anerkannte Hoffnung. Wie viele Männer, Zürcher von gutem Ruf, hätten Julika auf der Stelle geheiratet, Persönlichkeiten, wäre diesem seltsamen und schon darum so faszinierenden Mädchen nicht die Kunst (Ballett) über alles gegangen, dergestalt, daß sie alle außerkünstlerischen Unternehmungen von vornherein als Störung empfand. Tanz war ihr Leben! Mit einem kicherigen Lachen, das manch einen verdroß oder zumindest jedes ernsthafte Gespräch verunmöglichte, hielt sie die Herren von sich, und ob Sie es nun glauben wollen oder nicht, die schöne Julika lebte damals wie eine Nonne, allerdings von Gerüchten umwittert, die sie als Vamp erscheinen ließen, aber auch darüber konnte Julika nur kichern. Warum ließ man sie nicht, wie sie nun einmal war? Nie ohne frische Blumen im Arm verließ sie das Theater, nie ohne eine leise und ehrliche Angst, daß draußen der nächste Verehrer wartete, der Spender dieser Blumen, ein Student vielleicht oder ein Herr mit glänzendem Auto. Julika hatte Angst vor Autos. Zum Glück erkannten sie Julika meistens gar nicht; mit einer schulmädchenhaften Wollmütze auf dem Kopf, so daß ihr immer schon rötliches Haar versteckt war, huschte sie vorbei, ein sehr unscheinbares Mädchen, sobald sie nicht in den Fluten des Scheinwerfers stand. Wie ein Meertier, das nur unter Wasser zu seinem Farbwunder gelangt, hatte auch Julika ihre geisterhafte Schönheit nur im Tanz, vor allem im Tanz; nachher war sie müde. Begreiflicherweise; im Tanz gab sie ihr Letztes. Also war sie müde, berechtigterweise, und Julika sagte es auch jedem wartenden Verehrer, daß sie müde sei. Nur Stiller glaubte immer, daß Julika bloß müde für ihn sei. Was hatte er davon, daß er sie zu einem Wein nötigte oder, da Julika keinen Wein trank, zu einem Tee? Stiller redete dann sehr viel, scheint es, wie einer, der sich allein für die Unterhaltung verantwortlich dünkt; Julika war müde und schwieg. Stiller redete damals viel von Spanien, er kam gerade aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurück, bereits vom schweizerischen Militärgericht verurteilt. Stiller tat ihr nicht leid wegen der Gefängnisstrafe, die ihm bevorstand und die er mit einem etwas aufdringlichen Stolz erwähnte, sondern einfachso; Julika wußte nicht eigentlich warum. Kaum lächelte sie einmal, hatte Stiller schon Angst, nicht ernstgenommen zu sein, schob seine Hand vor die Stirn oder vor den Mund, und als sie sich auf dem kurzen Heimweg verbat, Arm in Arm zu gehen, war er bestürzt, entschuldigte sich vor ihrer Haustür noch lange für seine Zudringlichkeit, die ihm selbst widerlich wäre. Dabei gefiel er Julika wie kein anderer. Stiller war denn auch der erste, jedenfalls einer der wenigen, die von der schönen Julika je ein Brieflein erhielten, ein paar Zeilen, worin sie bestätigte, daß sie leider sehr müde gewesen wäre, und die Gelegenheit eines Wiedersehens andeutete. Sie wußte, wie sehr dieser junge Mann sie begehrte, und zugleich, daß Stiller sie in keiner Weise vergewaltigen würde; dazu fehlte ihm irgend etwas, und das gefiel ihr ganz besonders an ihm. Und es gefiel ihr, daß dieser Mann, der eben noch in Spanien an einer Front gewesen war, ein Mann von schlanker und doch kräftiger Gestalt, der Julika um einen Kopf überragte, nicht im mindesten eine Entschuldigung ihrerseits erwartete, wenn sie ihn fast eine Stunde lang vor dem Theater hatte stehen lassen, im Gegenteil, er entschuldigte sich seinerseits für seine Beharrlichkeit und hatte schon wieder Angst, lästig zu sein. All dies gefiel Julika sehr, wie gesagt; jedenfalls rühmt sie ihren verschollenen Stiller immer aufs

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