Stiller
herzlichste, wenn sie jener frühen Zeiten gedenkt. Es war März, und sie machten einen ersten Spaziergang über Land, der für die zarte Julika viel zu lang war, mühsam und auch zu dreckig, die Erde war noch sehr naß, wennschon die warme Sonne schien, einmal stak ihr sogar der linke Schuh in dem zähen Morast, als Stiller sie querfeldein zu führen nicht hatte unterlassen können, und Stiller mußte sie greifen, halten, damit Julika nicht auch noch mit ihrem bloßen Strumpf in den Schmutz trat, dabei gab es sich offenbar, daß Stiller sie zum erstenmal küßte. Julika ist der festen Meinung, daß auch sie ihn damals geküßt hätte. Übrigens ließ Stiller es bald bewenden, um Julika nicht lästig zu werden, und war trotzdem auf dem weiteren Spaziergang sehr munter, knickte Weidenruten wie ein Bub und schlug sich beim Gehen damit auf seinen offenen Mantel. Julika empfand ihn wie einen Bruder. Und auch das gefiel ihr. Es störte ihn nicht, daß Julika auch in der Landschaft ausschließlich vom Ballett plauderte, insbesondere von den Leuten um so ein Ballett herum, von Dirigenten, Bühnenbildnern, Friseuren, Ballettmeistern; das war ja doch ihre Welt. Andere Verehrer hatten ihr schon Vorwürfe gemacht, daß sie nichts anderes im Kopf hätte als Klatsch. Nicht so Stiller. Er gab sich viel Mühe hinzuhören, zeigte ab und zu auf eine besondersschöne Aussicht, die aber Julika nicht abzulenken vermochte, Stiller schämte sich dann, daß er von der Kunst des Balletts so wenig verstünde. In einer simplen Bauernwirtschaft, wie Stiller sie offenbar schätzte, aßen sie dann Speck und Brot, und Julika genoß es, eigentlich zum ersten Mal einen Mann getroffen zu haben, vor dem sie sich nicht fürchtete. Wieder redete er von seinem Spanien-Krieg. Denn wenige Tage nach jenem Spaziergang mußte er, eine eidgenössische Wolldecke unter dem Arm, irgendwo antreten, um seine paar Monate abzusitzen. Sie sahen einander lange nicht. In jener Zeit schrieb Julika mehrere Briefe, die zwar, ihrer scheuen Art gemäß, nicht wörtlich ihre Liebe zu ihm aussprachen; aber als feinfühlender Mensch mußte Stiller wohl merken, was die schöne Julika, ihrer scheuen Art gemäß, vielleicht empfand, ohne es ausdrücken zu können, und jedenfalls beruft sich Frau Julika Stiller-Tschudy heute noch auf jene Briefe als untrügliche Zeugnisse dafür, wie innig und voll zärtlicher Hingabe sie den verschollenen Stiller geliebt hat.
Sie heirateten nach einem Jahr.
Als Fremder hat man den Eindruck, daß diese zwei Menschen, Julika und der verschollene Stiller, auf eine unselige Weise zueinander paßten. Sie brauchten einander von ihrer Angst her. Ob zu Recht oder Unrecht, jedenfalls hatte die schöne Julika eine heimliche Angst, keine Frau zu sein. Und auch Stiller, scheint es, stand damals unter einer steten Angst, in irgendeinem Sinn nicht zu genügen; es fällt auf, wie häufig dieser Mensch sich glaubte entschuldigen zu müssen. Woher seine Angst gekommen sein mag, weiß Julika nicht zu sagen. Überhaupt redet Julika gar nicht von Ängsten, wenn sie von ihrer bedauerlichen Ehe mit dem verschollenen Stiller erzählt; aber fast alles, was sie erzählt, deutet doch darauf hin, daß sie ihren Stiller nur durch sein schlechtes Gewissen glaubte fesseln zu können, durch seine Angst, ein Versager zu sein. Sie traute sich offenbar nicht zu, einem wirklichen und freien Mann genügen zu können, so daß er bei ihr bliebe. Man hat den Eindruck, daß auch Stiller sich an ihre Schwäche klammerte; eine andere Frau, eine gesunde, hätte Kraft von ihm verlangt oder ihn verworfen. Julika konnte ihn nicht verwerfen; sie lebte ja davon, einen Menschen zu haben, dem sie immerfort verzeihen konnte.
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Ich will aber versuchen, in diesen Heften nichts anderes zu tun als zu protokollieren, was Frau Julika Stiller-Tschudy, der ich so gerne gerecht werden möchte, schon damit sie mich nicht für ihren Gatten hält, mir odermeinem Verteidiger von ihrer Ehe selber erzählt hat: – Eine leichte Tuberkulose, aber wirklich nur eine leichte, die nicht zum Alarm nötigte, hatte der Theaterarzt schon vor etlichen Jahren feststellen müssen, auch immer wieder gemeint, Julika sollte doch den Sommer unbedingt in der Höhe verbringen. Das war ein guter Rat, der allerdings Geld voraussetzte, und Stiller, ihr Mann, verdiente damals mit seiner Bildhauerei überhaupt nichts, fast nichts, jedenfalls nicht genug, damit seine arme Gattin hätte aussetzen können. Julika machte
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