Stille(r)s Schicksal
sich gehört.
Der allgemeine Unmut über das Lokal - und überhaupt - wurde geschickt verborgen, jeder schickte sich irgendwie in seine Rolle. Vater Helmut holte tief Luft und meinte: "Na, dann will ich euch mal einen Witz erzählen!"
Irgendwie wolle er
wenigstens versuchen, die Truppe ein bisschen aufzumuntern
, wie er es formulierte.
Schon bei der Ankündigung seines Vorhabens ahnten Margot, Sven, Frieda und Franz, was jetzt auf sie zukam. Sie kannten seinen obligatorischen Kirchturmwitz, der bei jeder Gelegenheit zum besten gegeben wurde, in allen möglichen Variationen.
Verständnisinnige Blicke wurden getauscht. Die ganze Familie, außer Anne und Helmut, schien augenblicklich zu einer verschworenen Gemeinschaft zu verschmelzen, bekundete ihr offensichtliches Desinteresse, besonders Opa Neumaier fand das Schürzenband der Kellnerin viel interessanter, nur Friedas Blick hinderte ihn daran, es aufzuziehen..
Helmut erzählte seinen Witz unbeeindruckt weiter.
"Du brauchst ihm das doch nicht zu sagen, der kommt doch an der Uhr vorbei!" endete er wie gewohnt und fast alle lachten lauthals. Anne nicht.
Sie hatte sogar Mühe, ihren Ärger zu verbergen. Sie schaute in die vom Essen und vom Lachen erhitzten Gesichter und war unangenehm berührt. Da war ein Dachdecker vom Kirchturm gefallen, ein anderer hatte ihm nachgerufen, dass er nicht mehr hochzukommen brauche, denn es sei gleich Frühstück. Und dann eben die von Helmut genüsslich vorgetragene zweite Pointe. Aber wer vom Kirchturmdach fällt, überlebt das in den seltensten Fällen, überlegte Anne und schüttelte sich.
Hatten die anderen vielleicht im Grunde ihres Herzens auch eher Mitleid mit dem armen Kerl und wagten es nur nicht zu äußern? An ihren Gesichtern war das nicht zu erkennen, die glühten vor Eifer, es dem Familienoberhaupt recht zu machen.
Anne musste unwillkürlich daran denken, um wie viel schöner es wäre, wenn ihre eigenen Eltern auch mit hier am Tisch hätten sitzen können. Sie wären von der gediegenen Atmosphäre eher angetan gewesen, war sich Anne sicher, denn sie erinnerte sich an so manchen gemütlichen Abend beim Chinesen. Damals.
Aber Anne kam es so vor, als hätten sich jene Abende vor sehr langer Zeit, quasi in einem anderen Leben, zugetragen. Dabei war es noch nicht einmal zwei Jahre her.
Ihr Blick fiel auf Svens klares Profil. Wieder musste sie an ihren gemeinsamen Besuch am Grab ihrer Eltern denken, da waren ihr seine gut gezeichneten Gesichtszüge, die fast griechisch, aber auf jeden Fall sehr edel wirkten, auch schon aufgefallen.
Auf dem Friedhof war es ebenso still gewesen wie jetzt hier. Aber anders, friedlicher, fand sie.
Die Luft hatte nach einem Gemisch aus Herbst und Winter gerochen. Sie war mit Sven durch trockenes, raschelndes Laub gegangen.
Sven hatte die in den Grabstein eingemeißelten Namen von Uwe und Marion Hellwig halblaut vor sich hin gemurmelt. Ebenso die unterschiedlichen Geburtsdaten und den selben Todestag. Er wusste von dem Verkehrsunfall, bei dem beide ums Leben gekommen waren. Anne hatte es ihm schon auf Teneriffa erzählt.
Sven hatte sich wohl gefragt, ob ihr Wunsch nach einer stummen Zwiesprache mit ihren Eltern der einzige Grund gewesen war für diesen Friedhofsbesuch so kurz vor der Hochzeit.
Erst als sich ihre Blicke begegnet waren, hatte sie den Mut aufgebracht, diese für sie wichtige Frage zu stellen.
"Sven, schau genau hin", hatte sie ihn aufgefordert, "sieh ihn dir an, diesen Hügel, diese Grabstelle. Hier wird vielleicht auch bald mein Platz sein. Willst du mich trotzdem heiraten?"
Ernst und eindringlich hatten ihre Augen in seinem Gesicht geforscht, als wolle sie ganz genau lesen, was hinter seiner Stirn vor sich ging.
Sein Gesicht war scheinbar völlig ruhig geblieben. Doch Anne konnte trotzdem seine Anspannung fühlen. Dann sah sie, dass er den wahren Grund erkannt hatte für diesen ungewöhnlichen Herbstspaziergang. Und sie war ihm dankbar gewesen, dass er das Schweigen nicht noch länger ausgedehnt, sondern schlicht geantwortet hatte: "Ja, Anne, das will ich. Ich will, dass du meine Frau wirst, die Mutter meines Kindes!"
Es hatte keinerlei Pathos in seinen Worten gelegen und sie hatten ausgereicht, dass es Anne vorgekommen ist, als seien die Farben des Herbstes nie schöner gewesen.
Ihr Vertrauen, dass ihre Liebe allen Widerständen trotzen und nicht sterben würde, auch wenn sie selbst schon nicht mehr existierte, war an jenem Tag ins Unermessliche gewachsen.
Es hatte
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