Stille(r)s Schicksal
fertig wären. Viel wichtiger sei doch, dass sie sich wieder gefunden haben, dass sie sich lieben, dass sie wieder gesund werden würde, wenn sie sich nur richtig seiner Pflege anvertraute. Alles andere würde sich dann schon finden.
Sie hörte ihm zu, unterbrach ihn nicht, ließ nur öfter mal ein kurzes "Hm, hm" hören. Schließlich dachte sie: Wieso eigentlich nicht, wieso eigentlich soll ich diesen Krebs nicht besiegen? Wieso eigentlich soll ich diesen Mann nicht heiraten, der mich doch ganz offensichtlich sehr lieb hat und unsere Zukunft in solchen warmen Farben malen kann?
Inzwischen kamen und gingen viele Besucher, schwappten Bruchstücke ihrer Gespräche zu ihnen herüber, ohne dass Sven und Anne viel davon mitbekamen. Sie schienen alles um sich herum vergessen zu haben.
Die erboste Stimme einer Oma riss sie unbarmherzig aus ihrer Versunkenheit.
"Wissen Sie, junger Mann, es ist gleich Schlafenszeit. Denken Sie, ich wasche mich hier vor Ihren Augen? Außerdem wird die Ursel gleich kommen. Wenn die Sie noch hier erwischt, können Sie sich auf eine Litanei gefasst machen!"
Die Oma kicherte in sich hinein, ihre Strenge war also nur gespielt.
Das war auch Anne nicht entgangen, aber dass mit Schwester Ursel nicht gut Kirschen essen war, das wusste schließlich jeder hier. Sven schaute auf den schwarzen Radiowecker, sprang sofort auf. Auch Anne erschrak, als sie seinem Blick folgte. Sven hatte die Besuchszeit einfach um mehr als eine Stunde verlängert.
"Es ist wirklich besser, du gehst jetzt, denn mit der Ursel ist tatsächlich nicht zu spaßen!"
Annes Gesichtsausdruck war ernst geworden.
Doch Sven war ohnehin schon zum Kleiderhaken gestiefelt und angelte nach seiner Windjacke. Wie um Entschuldigung bittend, sah er die Oma und die anderen Frauen ringsum verlegen lächelnd an. Aber die meisten nahmen schon gar keine Notiz mehr von ihm.
Die alte Dame im Baumwollhemd zwinkerte ihm jedoch noch einmal verständnisvoll zu.
"Wir waren ja schließlich alle mal jung", kam es zischend aus ihrem zahnlosen Mund, wodurch sie besonders rührend aussah.
Sven nickte erleichtert, wandte sich aber gleich wieder Anne zu.
"Also, dann bis bald, ich leite alles Notwendige in die Wege. Ich meine, für die Hochzeit und so."
Er war noch einmal ein paar Schritte auf Anne zugegangen und hatte ganz ruhig gesprochen. Anne bat ihn, noch einmal näher zu kommen. Dann küsste sie ihn zum Zeichen ihres Einverständnisses. Lächelnd schaute sie ihm nach, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.
Aber dann gab es kein Halten mehr. Endlich konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Zu lange schon hatte sie dagegen angekämpft. Den zeitweiligen Mitbewohnerinnen ihres Krankenzimmers war das nicht entgangen. Sie hatten der jungen, schmächtigen Frau, deren Gesichtszüge aus Stein gemeißelt zu sein schienen, schon manchmal gewünscht, dass sie endlich weinen könnte.
Anne hatte das bis heute nicht fertiggebracht, obwohl die Schmerzen an Leib und Seele manchmal kaum zu ertragen waren.
Ihr anfänglich starker Wille, ihr Schicksal nicht einfach hinzunehmen und gegen den Krebs zu kämpfen, war an dem Tag gebrochen, als man ihre Schwangerschaft feststellte. Von da an sprach sie kaum noch, klagte nie, lehnte jede Behandlung ab, die ihr ungeborenes Kind gefährden könnte. Sie glaubte wohl, diesem heranwachsenden Leben ihr eigenes schuldig zu sein. Jeden Versuch, sie vom Gegenteil zu überzeugen, hatte sie bisher im Keim erstickt.
Trotzdem verhielt sie sich den anderen gegenüber freundlich, wenn auch verschlossen. Tränen hatte sie keine, weder für sich selbst, noch für andere.
Doch heute war alles anders gewesen, ihre selbst auferlegte Disziplin und Härte erschienen ihr mit einem Mal fragwürdig.
Das hatte Sven mit seinem Besuch, mit seiner Zuversicht und seiner Zärtlichkeit bewirkt. Sie hatte überrascht festgestellt, dass sie sich sogar noch freuen konnte.
Als sie nun wieder von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde, ließ sie es einfach geschehen. Keine der Frauen kam zu Anne, um sie zu beschwichtigen oder zu trösten. Anne war das nur recht so.
Sie wussten ja alle, dass es in ihrem Fall eigentlich kaum Trost und selten ein Entrinnen gab. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie dachte an Sven, an den winzigen Hoffnungsschimmer, den sein Besuch zum Aufleuchten gebracht hatte.
Vor allem für mein Baby
, dachte sie und schalt sich wieder, dass sie es so strikt abgelehnt hatte, Sven zu benachrichtigen. Ihr
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