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Stille(r)s Schicksal

Stille(r)s Schicksal

Titel: Stille(r)s Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Kunze
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ihr Kraft verliehen und Toleranz.
    Auch für das Verhalten von Svens Eltern und Großeltern.
    So konnte es Anne gelassen hinnehmen, dass die Stiller-Mutter immer wieder den einfachen Nelkenstrauß mit kritischen Blicken bedachte, der Vater ungeniert in der Nase bohrte, der Opa nervös seine Zigarette zerkrümelte und die Oma ihre Serviette in den Händen knüllte, weil ihr offenbar das Strickzeug fehlte, mit dem sie sonst um diese Zeit beschäftigt war - und dass niemand auch nur ein einziges freundliches Wort an sie richtete.
    Anne konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Sie hatten sich die Hochzeit ihres einzigen Sohnes und Enkels bestimmt ganz anders vorgestellt.
    Doch an dem Tag, da sie gemeinsam vor dem Grab ihrer Eltern standen, hatte sich Anne vorgenommen, ihrerseits alles tun, um wenigstens ein Mindestmaß an Zuneigung zu Svens Eltern und Großeltern wachsen zu lassen. Überhaupt Eltern und Großeltern zu haben, erschien ihr schon als ein großes Glück.
    Und was das Wichtigste war: ihr Baby würde Großeltern und sogar Urgroßeltern haben. Ein angenehmer Gedanke, der ihr Herz wärmte und ein unverhofftes Lächeln auf ihr feines Gesicht malte.
    Helmut Stiller bemerkte es als erster und schrieb es natürlich seinem Kirchturmwitz zu. Sogleich hob er den Kopf und drückte den Rücken gerade.
    Als Sven die Serviette anhob und einen verstohlenen Blick auf die Rechnung warf, wurde er blass.
    Sein Vater hatte das sofort bemerkt und seinen Sohn scheinbar barsch aufgefordert, den Damen und dem Opa in die Mäntel zu helfen.
    "Das hier", sagte er und wies mit einer verächtlichen Handbewegung auf den Teller mit der abgedeckten Rechnung, "das erledige ich schon!"
    Mit solcher Großzügigkeit hatte Sven gar nicht gerechnet, aber er nahm sie erleichtert an.
    Der Abschied vor der Gaststätte gestaltetet sich dennoch eher zurückhaltend. Niemand umarmte jemanden, aber Helmut kam es vor, als hätte ihm sein Sohn zum Abschied besonders lange die Hand gedrückt. Begriff er nun endlich, dass alle Strenge aus den Kindertagen nur zu seinem Besten gewesen war?
    "Gute Reise!" kam es halbherzig von Margot. Die Großeltern pflichteten ihr bei.
    "Ja, eine schöne Reise wünschen wir auch, muss ja nicht gleich wieder bis Teneriffa sein, nicht wahr?"
    Opa Neumaier musste unwillkürlich daran denken, dass eigentlich nur das defekte Telefon schuld war, dass sie im Frühjahr von der gleichzeitigen Reise ihres Enkels und der kleinen Hellwig nach Teneriffa nichts gewusst hatten. Und nun hieß diese Kleine mit dem roten Polo auch Stiller - wie ihre Tochter. Das Leben geht schon manchmal verschlungene Wege, dachte Franz und bot seiner Frieda den Arm. Links stützte er sich auf seinen Stock, ohne den er überhaupt nicht mehr aus dem Haus ging.
    Noch ein letztes Winken, dann war der kleine rote Polo, den Trabant hatten sie für 150 Euro im benachbarten Polen verkauft, um die Ecke gebogen.
     

Wenn Sehnsucht den Tumor vergessen lässt …
     
    Die sogenannte Hochzeitsreise (mit unbekanntem Ziel) war schon nach zwanzig Minuten beendet, denn sie führte die jungen Eheleute nur bis nach Wiesenberg, was nur einen Katzensprung weit von ihrem bisherigen Wohnort entfernt lag.
    "Uff!", sagte Sven und wischte sich scherzhaft den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. Er war schließlich auf dem Bau ganz andere Lasten gewöhnt als dieses Federgewicht.
    Als Sven seine Frau über die Schwelle getragen und im Flur auf die Füße gestellt hatte, begann Anne langsam umherzugehen.
    Sie sah sich überall um. Der längliche Flur war dunkel und schmal. Links stand eine Kommode. Ein Spiegel mit grauen, gesprenkelten Flecken hing schräg darüber und bot, wie seine Umgebung auch, keinen sehr freundlichen Anblick.
    Sven hatte inzwischen Streichhölzer aus der Küche geholt und die beiden Kerzen angezündet, die in hohen Messinghaltern vor dem sicher einstmals sehr schönen Stück standen. Auf diese Weise erhielt der Flur doch noch ein wenig Licht und Wärme.
    Trotzdem entdeckte Anne, dass die Wände feucht waren, und an manchen Stellen der Putz abbröckelte.
    "Oh, je," sagte sie und wandte sich seufzend zu Sven um, "hier gibt es ja wirklich noch jede Menge Arbeit. Wie willst du das nur alles schaffen?"
    "Ach, das wird schon!"
    Sehr überzeugend klang das nicht, aber Anne nickte ihm zu, denn heute war schließlich ihr Hochzeitstag. Doch die Zweifel meldeten sich wieder. Wo sie auch hinschaute, überall kam es ihr ziemlich chaotisch vor. So, als hätte Sven vielerlei

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