Stille(r)s Schicksal
an ihrer Flasche nuckelte, war er irgendwie gerührt. Doch dann schlug sie die Augen auf, schaute ihn so seltsam an. Aufmerksam? Spöttisch? Ängstlich?
Sven erschauerte unwillkürlich, denn er glaubte, Annes Augen erkannt zu haben.
Darüber war er so in Panik geraten, dass er ungeschickt an die Flasche stieß. Sie wäre fast zu Boden gefallen, und Laura begann zu weinen.
„ So pass doch auf!" fuhr ihn sein Vater an. Die Mutter war mit einer Schnelligkeit herbei gesprungen, die ihr niemand mehr zugetraut hätte und hatte die Flasche aufgefangen.
Alle guten Worte aber, mit denen die Großeltern auf ihre Enkeltochter einredeten, halfen nichts. Laura konnte sich nicht mehr beruhigen.
Ihr Vater nahm und schüttelte seine Tochter ein bisschen, aber sie schrie nur um so mehr.
„ Ach, die kleine Heulsuse wird sich schon beruhigen“, sagte Sven und lachte gezwungen, „spätestens im Auto wird sie pennen."
Oma Margot war davon nicht so sehr überzeugt, aber sie schalt sich gleich wieder, weil sie so wenig Vertrauen zu ihrem Sohn hatte.
***
So ließen sie Sohn und Enkelchen schweren Herzens ziehen, aber das Gefühl, dass das vielleicht doch ein Fehler gewesen sein könnte, sollte sie lange nicht loslassen.
Oft wachte Margot mitten in der Nacht auf, weil sie glaubte, die kleine Laura weinen gehört zu haben.
"Beruhige dich!" hatte ihr Mann sie in solchen Nächten spröde zu trösten versucht. „Laura ist jetzt da, wo sie hingehört, bei ihrem Vater! Wieso sollte sie da weinen, er wird ihr schon nichts tun!"
Es war nur ein leichtes Zittern in seiner Stimme gewesen, doch es hatte Margot ausgereicht, um zu erkennen, dass auch ihr Mann sich Sorgen machte.
Zufluchtsstätte Keller …
"Hör auf, mich so anzuglotzen!"
Da war er wieder, dieser durchdringende, unerträgliche Blick.
Wie so oft in den letzten Tagen wandte sich Sven von Laura ab und versuchte, sich mit etwas anderem zu beschäftigen.
Er war noch immer arbeitslos.
„ Waaas, Sie haben eine kleine Tochter, aber keine Frau dazu?“
Wie er diese diskriminierende Bemerkung hasste! Aber er ging ohne ein Wort des Widerspruchs seiner Wege. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass jeder Protest sowieso zwecklos sein würde. Außerdem tauchte neuerdings wieder öfter der Gedanke auf, dass er als Arbeitsloser mehr Freizeit habe und sich besser um den weiteren Ausbau seines Haues sowie um seine Tochter kümmern konnte. Das hatte er sich jedenfalls ernsthaft vorgenommen.
Trotzdem: Es wollte und wollte weder mit dem Haus noch mit seiner Tochter so richtig vorangehen. Er brachte einfach nichts mehr zustande.
Kaum, dass er ein Werkzeug in die Hand nahm, begann Laura zu weinen. So ergab es sich, dass er nach und nach immer mehr von seinen guten Absichten abließ, das Haus weiter auszubauen.
Hin und her gerissen zwischen Liebe, Wut und Angst setzte er sich immer wieder tatenlos zu seiner Tochter. In den ersten Tagen hatte Sven sogar noch genau darauf geachtet, dass er sie immer zur selben Zeit fütterte und ihre Windeln erneuerte.
Seine Mutter sollte ihm auch nicht umsonst eingeschärft haben, dass man Babys regelmäßig baden und danach eincremen müsse. Auch das hatte in der ersten Woche recht gut geklappt. Er hatte sich doch wirklich redlich bemüht.
Die Kleine sollte so rosig aussehen wie damals bei der Guttich oder zuletzt bei den Großeltern. Doch mit der Zeit wurden ihm die vielen kleinen Handgriffe lästig.
Sven fühlte sich von seiner Tochter tyrannisiert.
Nicht einmal Karten spielen gehen konnte er, obwohl ein paar junge Männer aus der Nachbarschaft ihn schon manchmal dazu aufgefordert hatten.
In der Küche häufte sich die Wäsche. Sven wusste nicht, was er zuerst machen sollte. Sobald er etwas anfing, brüllte Laura wie am Spieße. Dann nahm er sie auf den Arm, trabte mit ihr von einer Ecke der Küche in die andere.
Momentan war sie gerade mal ruhig, also konnte er sie auch wieder ins Bett packen, aber da guckte sie wieder so komisch. Das konnte Sven nicht länger ertragen, er musste aufstehen, um diesem Blick den Rücken kehren zu können.
Die Kellertür stand sperrangelweit offen. Sven ging, um sie zu schließen. Dann aber überlegte er es sich anders und schlich sich doch wieder die Stufen hinab. Ängstlich lauschte er bei jedem Schritt nach oben, aber alles blieb still.
Erleichtert ließ er sich unten in den Sessel fallen, der vor zwei Tagen den vorher dort stehenden Stuhl abgelöst hatte.
Hier würde ihn nichts und niemand
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