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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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inzwischen mehr zu schätzen wußte als bei ihrem letzten Zusammentreffen. Anfangs hatte Hester den Eindruck gehabt, als wisse die andere Frau nicht recht, was sie sagen sollte. Nachdem sie sie nun jedoch ein wenig genauer kennengelernt hatte, schien es ihr statt dessen, als sei Eglantynes Schweigen dem Wissen entsprungen, daß Worte nichts bewirken konnten, daß sie am Ende nur bagatellisieren konnten, was zu groß für das menschliche Fassungsvermögen war. Nachdem sie gemeinsam in den Salon gegangen waren, warf Hester einen Blick auf Corriden Wade. Er war unübersehbar müde, und die Anstrengung zeigte sich in den dünnen Linien der Erschöpfung um seinen Mund und um die Augen. Seine Haltung war nicht mehr von derselben Energie geprägt wie zuvor.
    »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Dr. Wade?« fragte sie ernst. »Es muß doch die Möglichkeit geben, wie ich Ihre Last ein wenig leichter machen könnte? Sie haben gewiß noch viele andere Patienten, sowohl im Hospital als auch in Ihren eigenen Häusern.« Sie sah ihm forschend in die Augen. »Wann haben Sie das letzte Mal an sich selbst gedacht?«
    Er starrte Hester an, als wisse er im Augenblick nicht recht, wovon sie sprach.
    »Dr. Wade?«
    Wade lächelte, und sein Gesicht verwandelte sich vollkommen. Die Niedergeschlagenheit und die Besorgnis verschwanden, obwohl nichts die Müdigkeit in seinen Zügen verhüllen konnte.
    »Wie großzügig von Ihnen, Miss Latterly«, sagte er leise.
    »Ich entschuldige mich dafür, daß ich meine eigenen Gefühle so offen zur Schau getragen habe. Das ist ein Benehmen, das ich weder erstrebe noch akzeptabel finde. Ich gebe zu, daß dieser Fall mich sehr mitnimmt. Wie Sie zweifellos beobachtet haben werden, sind sowohl meine Schwester als auch ich der ganzen Familie sehr verbunden.« Ein Schatten des Schmerzes schimmerte in seinen Augen auf, und seine eigene Überraschung über diese Regung war unverkennbar. »Es fällt mir immer noch schwer zu akzeptieren, daß Leighton tot ist. Ich kannte ihn seit vielen Jahren. Wir hatten sehr viel gemeinsam. Daß das alles so enden mußte…« Er holte tief Atem. »So tragisch! Es ist furchtbar. Rhys ist viel mehr für mich als ein Patient. Ich weiß …«, er machte eine knappe Handbewegung, »ich weiß, daß ein guter Arzt oder eine gute Krankenschwester sich nicht gestatten sollte, persönliche Anteilnahme an einem Patienten zu nehmen. Das kann die Urteilskraft beeinträchtigen, so daß sie dem Patienten nicht mehr die bestmögliche Pflege bieten können. Verwandte können Mitleid, moralische Unterstützung und Liebe anbieten. Von uns werden keine Gefühle erwartet, sondern die beste medizinische Behandlung. Ich weiß das genausogut wie jeder andere. Trotzdem kann ich nicht umhin, mir Rhys’ Not zu Herzen zu nehmen.«
    »Mir geht es da nicht anders«, gestand sie. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand von uns erwartet, daß wir gefühllos sind. Wie könnten wir unsere Zeit der Pflege Kranker und Verletzter widmen, wenn wir ihnen gegenüber gleichgültig wären?«
    Wade sah sie sekundenlang durchdringend an.
    »Sie sind eine bemerkenswerte Frau, Miss Latterly. Natürlich haben Sie recht. Ich werde jetzt zu Rhys hinaufgehen. Vielleicht möchten Sie den Damen Gesellschaft leisten, und…«
    »Ja?« Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, daß er Rhys allein zu untersuchen pflegte, und stellte dieses Verfahren nicht mehr in Frage.
    »Bitte, machen Sie ihnen keine allzu große Hoffnung. Ich weiß nicht, ob Rhys so gute Fortschritte macht, wie ich es gern gesehen hätte. Seine äußeren Verletzungen heilen, aber er scheint keine Energie zu haben, keinen Willen, gesund zu werden. Er wird kaum kräftiger, und das beunruhigt mich. Können Sie mir sagen, ob ich irgend etwas übersehen habe, Miss Latterly?«
    »Nein. Nein, ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber es geht mir nicht anders als Ihnen. Ich habe ebenfalls gehofft, daß er nach und nach den Wunsch verspüren würde, ein wenig länger aufrecht zu sitzen oder sogar eine Weile in einem Sessel zu verbringen. Er ist immer noch sehr schwach und kann auch nicht so viel essen, wie ich erwartet hatte.«
    Wade seufzte. »Vielleicht haben wir uns zu viel erhofft. Aber achten Sie auf Ihre Worte, Miss Latterly, sonst werden wir seiner Mutter unbeabsichtigt vielleicht noch mehr Schmerz bereiten.« Dann ging er mit einer knappen Verneigung an ihr vorbei die Treppe hinauf und verschwand im oberen Korridor.
    Hester ging zum Salon und klopfte an.

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