Stilles Echo
unterschiedliche Weise.
Aber in der Zwischenzeit hatte er Zorah Rostova verteidigt und damit beinahe seine Karriere ruiniert. Er hatte hautnah die Grenzen der Urteilsfähigkeit und die Intoleranz seines eigenen Berufsstandes erlebt, hatte erfahren, wie schnell die Gesellschaft ihre Loyalität ins Gegenteil verkehren konnte, wenn gewisse Grenzen überschritten wurden. Mitleid und Überzeugung waren keine Entschuldigung. Er hatte gesprochen, ohne zuvor die Konsequenzen abzuwägen, einfach, weil es seine Meinung gewesen war. Plötzlich standen er und Hester auf derselben Seite des Abgrunds, der sie zuvor getrennt hatte.
War es das Bewußtsein um diese Tatsache, ein Gefühl, das ihn gleichzeitig erschreckte und beglückte?
Hester wandte den Kopf, um ihn noch einmal anzusehen, und stellte fest, daß er sie ebenfalls anblickte. Sie wußte, wie dunkel seine Augen waren, und dennoch verblüffte sie jetzt die Wärme darin. Sie lächelte, schluckte dann und wandte sich wieder der Bühne zu. Sie mußte Interesse heucheln, damit sie nachher zumindest wußte, wovon das Stück handelte. Hester hatte nicht die leiseste Ahnung. Sie hätte weder den Helden noch den Schurken identifizieren können – vorausgesetzt, es gab einen Helden und einen Schurken.
Als dann die Pause kam, stellte sie fest, daß sie lächerlich gehemmt war.
»Gefällt Ihnen das Stück?« fragte er, als er sie durchs Foyer begleitete, dorthin, wo die Erfrischungen serviert wurden.
»Ja, vielen Dank«, antwortete sie und hoffte, daß er sie nicht in ein Gespräch über die Handlung verstrickte.
»Und wenn ich Ihnen erzählte, daß ich dem Geschehen auf der Bühne nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet habe, daß meine Gedanken in eine andere Richtung abgeirrt sind, könnten Sie mir dann sagen, was ich verpaßt habe?« fragte er sanft.
»Damit ich den zweiten Akt besser verstehe?«
Sie dachte hastig nach. Sie mußte sich darauf konzentrieren, was er sagte, nicht darauf, was er möglicherweise meinte – oder vielleicht nicht meinte! Hester durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen und sie damit vielleicht beide in Verlegenheit bringen. Dann würden sie ihre Freundschaft nicht mehr aufrechterhalten können. Es wäre vorbei, auch wenn keiner von ihnen es aussprach, und es wäre sehr schmerzlich. Mit einiger Überraschung wurde ihr klar, wie sehr es weh tun würde.
Sie sah Rathbone mit einem Lächeln an, das recht beiläufig war, aber nicht so flüchtig, daß es einstudiert oder kühl hätte wirken können.
»Haben Sie einen Fall, der Ihnen Schwierigkeiten bereitet, einen neuen Fall?«
Würde er sich in diese Entschuldigung flüchten, oder hatte sie damit ohnehin die Wahrheit getroffen?
»Nein«, sagte er, ohne zu zögern. »Wahrscheinlich hat es in gewissem Sinne mit dem Gesetz zu tun, aber es ist bestimmt nicht der juristische Aspekt der Angelegenheit, der mir gerade durch den Kopf ging.«
Diesmal sah sie ihn nicht an. »Der juristische Aspekt? Wovon?«
»Von der Angelegenheit, die mir Kopfzerbrechen bereitet.« Er legte ihr eine Hand auf den Rücken, um sie durch das Gedränge zurückzuführen, und sie spürte, wie die Wärme seiner Berührung sie durchströmte. Es war ein Gefühl der Sicherheit und beunruhigend angenehm. Warum sollte ein angenehmes Gefühl sie beunruhigen? Lächerlich!
Weil es so einfach gewesen wäre, sich daran zu gewöhnen. Die wohltuende Süße dieses Gefühls war eine überwältigende Versuchung. Es war, als käme man ins Sonnenlicht, wo man plötzlich merkte, wie sehr man zuvor gefroren hatte.
»Hester?«
»Ja?«
»Vielleicht ist das nicht der beste Ort, aber…«
Bevor er seinen Satz beenden konnte, trat ein hochgewachsener Mann mit flatterndem, silberweißem Haar und onkelhaftem Gehabe an ihn heran.
»Meine Güte, Rathbone, Sie müssen ja meilenweit weg sein mit Ihren Gedanken. Ich schwöre, ich habe Sie an einem halben Dutzend Bekannter vorbeigehen sehen, als wüßten Sie nicht einmal von deren Existenz! Darf ich das Ihrer charmanten Begleiterin zuschreiben oder einem besonders schwierigen Fall?
Sie scheinen sich wirklich immer die vertracktesten Gerichtsfälle herauszusuchen.«
Rathbone blinzelte kaum merklich. Es war eine winzige Geste, die man bei ihm nur in sehr wenigen Situationen beobachten konnte.
»Der Grund für meine Geistesabwesenheit liegt natürlich bei meiner Begleiterin«, antwortete er ohne Zögern. »Hester, darf ich Ihnen Richter Charles vorstellen? Miss Hester Latterly.«
»Ah!« sagte Charles
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