Stilles Echo
nur sechs Jahre zurück, aber Hester hatte das Gefühl, als sei es ein ganzes Leben. Jetzt erschien ihr ihre Umgebung fremdartig, und sie hatte die Spielregeln verlernt.
»Guten Abend, Sir Oliver!« Eine üppige Dame stürzte voller Begeisterung auf sie zu. »Wie entzückend, Sie einmal wiederzusehen. Ich hatte schon befürchtet, wir müßten fortan auf die Freude Ihrer Gesellschaft verzichten. Sie kennen doch sicher meine Schwester, Mrs. Maybury, nicht wahr?« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Darf ich Sie mit ihrer Tochter bekannt machen, meiner Nichte, Miss Mariella Maybury?«
»Guten Tag, Miss Maybury.« Rathbone beugte sich mit der Ungezwungenheit langer Erfahrung über die Hand der jungen Frau. »Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich hoffe, das Stück wird Ihnen gefallen. Es soll ja überaus unterhaltsam sein. Mrs. Trowbridge, darf ich Ihnen Miss Hester Latterly vorstellen?« Er gab keine weiteren Erklärungen ab, sondern legte eine Hand unter Hesters Ellbogen, als wolle er damit bekräftigen, daß sie nicht eine bloße Bekannte von ihm war, sondern eine Freundin, auf deren Gesellschaft er stolz war und die ihm nahestand.
»Guten Abend, Miss Latterly«, sagte Mrs. Trowbridge mit schlecht verhohlener Überraschung. Ihre relativ dünnen Augenbrauen fuhren in die Höhe, als wolle sie noch etwas hinzufügen, aber dann besann sie sich eines anderen und schwieg.
»Guten Abend, Mrs. Trowbridge«, antwortete Hester höflich, während ein schwaches prickelndes Gefühl der Wärme in ihr aufstieg. »Miss Maybury.«
Mrs. Trowbridge musterte Hester mit einem bösartigen Blick.
»Kennen Sie Sir Oliver schon lange, Miss Latterly?« fragte sie mit honigsüßer Stimme.
Hester wollte gerade wahrheitsgemäß antworten, aber Rathbone kam ihr zuvor.
»Wir kennen uns schon seit einigen Jahren«, erklärte er mit unverkennbarer Zufriedenheit. »Und ich habe das Gefühl, daß wir einander heute näherstehen als je zuvor. Manchmal denke ich, die beste Art der Zuneigung wächst langsam, in Kämpfen, die man Seite an Seite ausgefochten hat, durch gemeinsame Anschauungen. Finden Sie nicht auch?«
Mrs. Trowbridge holte tief Luft. »In der Tat«, nickte sie. »Vor allem, wenn es sich um Freundschaften innerhalb einer Familie handelt. Sind Sie eine Freundin der Familie, Miss Latterly?«
»Ich kenne Sir Olivers Vater, und ich mag ihn sehr«, antwortete Hester wahrheitsgemäß.
Mrs. Trowbridge murmelte etwas Unverständliches.
Rathbone verneigte sich, bot Hester seinen Arm und führte sie zu einer anderen Gruppe von Leuten, die meisten davon Männer in mittleren Jahren und offensichtlich wohlhabend.
Er stellte Hester einem nach dem anderen vor, jedesmal ohne irgendeine Erklärung zu geben.
Als sie ihre Plätze eingenommen hatten und sich der Vorhang zum ersten Akt hob, waren Hesters Gedanken in Aufruhr. Sie hatte die Spekulationen in den Augen dieser Leute gesehen. Rathbone wußte genau, was er tat.
Jetzt saß sie neben ihm in der Loge und konnte sich des Dranges nicht erwehren, ihn zu betrachten, statt zur Bühne zu sehen. Sie versuchte, in dem schwachen Licht in seinen Zügen zu lesen. Er schien entspannt zu sein, und wenn er überhaupt eine Regung verriet, dann vielleicht eine Spur Belustigung. Ein kaum merkliches Lächeln lag um seine Lippen. Als sie jedoch einen Blick auf seine Hände warf, sah sie, daß er sie ständig bewegte, ganz leicht nur, aber es vermittelte doch den Eindruck, als sei er außerstande, sie still zu halten. Er war nervös, weshalb auch immer.
Hester richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Bühne, aber ihr Herz schlug so heftig, daß sie meinte, es beinahe hören zu können. Sie beobachtete die Schauspieler und hörte alles, was sie sagten, aber einen Augenblick später hätte sie sich an kein einziges Wort mehr erinnern können. Sie dachte an ihren ersten Theaterbesuch mit Rathbone. Damals hatte sie viel mehr geredet, wahrscheinlich zu viel, sie hatte unverblümt ihre Meinung zu den Dingen geäußert, die ihr am meisten am Herzen lagen. Rathbone war höflich gewesen, wie er es immer sein würde, alles andere wäre unter seiner Würde gewesen. Aber sie hatte die Kühle in ihm gespürt, eine gewisse Distanziertheit, als wolle er sicherstellen, daß seine Freunde nicht zu viel in seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber hineindeuteten. Sein konventionelles Wesen beklagte ihren Freimut, auch wenn es ihre Courage bewunderte und sie am Ende für dieselben Ziele kämpften, nur auf
Weitere Kostenlose Bücher