Stilles Echo
wandte sich ab.
»Rhys!«
Er schüttelte den Kopf.
Sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Was auch geschehen war, er konnte es immer noch nicht ertragen, es andere wissen zu lassen. Selbst im Angesicht einer Verhaftung und eines Prozesses, bei dem es um sein Leben gehen würde, wollte er sein Wissen nicht teilen.
Aber war ihm die ganze Tragweite dieser Entscheidung klar? Glaubte er, weil Evan ihn nicht mitgenommen hatte, würden diese Dinge aus irgendeinem Grunde nicht eintreten?
»Rhys!« sagte sie drängend. »Die Anklage hat sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Sie stehen unter Hausarrest. Es ist dasselbe, als säßen Sie in einer öffentlichen Zelle oder in Newgate. Der einzige Grund, warum Sie hier sind und nicht dort, ist Ihr geschwächter Zustand, der einen Transport unmöglich macht. Es wird eine Verhandlung geben, und wenn man Sie für schuldig befindet, wird man Sie nach Newgate bringen, ganz gleich, wie krank Sie sind. Ihre Ankläger werden sich nicht darum kümmern, denn sie werden Sie ohnehin hängen …« Hester konnte nicht weitersprechen. Sie konnte es nicht ertragen, auch wenn er immer noch von ihr abgewandt war und die Augen fest verschlossen hielt. Sein Körper war starr, Tränen quollen unter seinen Lidern hervor und rannen über seine Wangen.
»Rhys«, sagte sie leise. »Ich muß Ihnen klarmachen, daß dies alles real ist. Sie müssen irgend jemandem die Wahrheit sagen, um sich zu retten!«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Haben Sie ihn getötet?« flüsterte sie.
Und wie zuvor schüttelte er auch diesmal den Kopf, kaum merklich nur, aber doch völlig unmißverständlich.
»Aber Sie wissen, wer es getan hat!« beharrte sie.
Ganz langsam drehte er sich wieder zu ihr um und sah ihr in die Augen. Sekundenlang lag er völlig reglos da. Sie konnte das Geräusch ferner Schritte hören, als eines der Dienstmädchen über den Flur ging.
»Wissen Sie es?« wiederholte Hester ihre Frage. Er schloß die Augen, ohne zu antworten.
Hester stand auf und ging hinunter in den Salon, wo Sylvestra sich ziellos bald mit diesem, bald mit jenem beschäftigte. Ein Wirrwarr von Stickgarnen lag auf einem kleinen Tisch, daneben zusammengeknülltes Leinen. In einer Schale waren Winterblumen aus dem Treibhaus halb arrangiert, halb einfach ins Wasser gesteckt. Mehrere Briefe lagen auf einem Tablett auf dem großen, halbkreisförmigen Tisch an der Wand, zwei Umschläge geöffnet, die anderen nicht.
Sobald sie die Tür hörte, fuhr sie herum.
»Wie geht es Ihnen?« fragte sie hastig und biß sich dann auf die Unterlippe, als sei sie sich nicht recht sicher, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Leighton war mein Mann. Ich schulde ihm alles, nicht nur Treue, sondern auch Liebe, Respekt und Anstand.« Sie runzelte die Stirn. »Wie konnte so etwas nur geschehen? Was… was hat ihn so verändert? Und erzählen Sie mir nicht, Rhys hätte sich nicht verändert. Ich habe die Verwandlung gesehen, die er mitgemacht hat, und sie macht mir Angst!«
Sylvestra wandte sich mit einer heftigen Gebärde ab und ballte die Hände zu Fäusten. Eine Frau mit geringerer Selbstbeherrschung hätte geweint oder geschrien, irgend etwas an die Wand geworfen, nur um ihre Anspannung zu lindern.
»Er war früher nie so, Miss Latterly.« Ihre Stimme klang gepreßt, als bereite es ihr große Mühe, überhaupt einen Laut hervorzubringen. »Er war manchmal eigensinnig, gedankenlos, wie die meisten jungen Menschen, aber grausam war er nicht, niemals. Ich verstehe es nicht. Ich dachte gestern abend, ich sei so müde, daß ich schon vor Erschöpfung würde einschlafen können. Ich wollte schlafen.« Sie betonte ihre Worte mit wildem Ingrimm. »Ich wollte einfach aufhören, irgend etwas denken oder fühlen zu können. Aber ich habe stundenlang wach gelegen und mir das Gehirn zermartert, um zu begreifen, was ihn derart verändert hat. Warum er so anders ist als früher, wann das alles begonnen hat. Ich habe keine Antworten gefunden. Das alles ergibt keinen Sinn für mich.« Sie wandte sich wieder an Hester, ihre Züge erfüllt von Trostlosigkeit und Verzweiflung. »Warum sollte jemand diese Frauen schlagen wollen? Warum eine Frau vergewaltigen, die ohnehin willig ist? Warum sollte irgend jemand so etwas tun? Das ist doch wahnsinnig.«
»Ich verstehe es auch nicht«, erwiderte Hester freimütig.
»Aber hier geht es offensichtlich nicht um Begehren, sondern eher um das Verlangen nach Macht
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