Stilles Echo
nicht von solchen Ausmaßen, nichts so Schreckliches und Endgültiges wie den Tod? Wenn sie ihn jetzt betrachtete, seine hohlen Augen, die von Erschöpfung und Schlafmangel ausgezehrten Wangen, fiel es ihr nicht schwer zu glauben, daß sich für ihn eine lange gehegte Furcht bewahrheitete, etwas, das zu verhindern er außerstande gewesen war.
Dann kam ihr ein neuer Gedanke. War Corriden Wade das fehlende Bindeglied in der Kette der Beweise, die Evan ihnen heute abend präsentiert hatte? War es vielleicht er, der versucht hatte, Leighton Duff auf die Schwäche seines Sohnes aufmerksam zu machen, auf seinen Hang zu größter Verderbtheit? War es eine Bemerkung Wades gewesen, die Leighton Duff schließlich in die Lage gesetzt hatte, all die scharfen Worte, die Blicke, die kleinen Tatsachen hier und da wie ein Mosaik zusammenzusetzen und die furchtbare Wahrheit zu erkennen?
Mit einem Schaudern des Entsetzens begriff sie, daß sie tief im Innern Rhys’ Schuld bereits akzeptiert hatte. Sie hatte so lange dagegen angekämpft und sich dann, plötzlich und ohne es selbst zu bemerken, damit abgefunden.
Wade hielt in seinem Auf und Ab inne und blickte auf Sylvestra hinab.
»Sie brauchen Ruhe, meine liebe Freundin. Ich werde Ihnen ein Medikament geben, das Ihnen hilft zu schlafen. Miss Latterly wird gewiß bei Rhys wachen, falls das notwendig sein wird, aber ich bezweifle das sehr. Und Sie werden Ihre ganze Kraft brauchen.« Dann wandte er sich an Hester. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel aufbürden muß, aber ich bin davon überzeugt, daß sowohl Ihr Mut als auch Ihr Mitleid der Aufgabe gewachsen sind.«
»Selbstverständlich«, sagte sie. »Wir werden uns morgen um all die Dinge kümmern, die jetzt getan werden müssen.«
Während sie sprach, schien er sich endlich ein wenig zu entspannen. Hester hielt es für klug, ihn ein paar Minuten mit Sylvestra allein zu lassen. Seine Sorge um sie war offenkundig.
»Ich werde jetzt nach Rhys sehen«, sagte sie. »Gute Nacht.« Sie wartete nicht erst auf eine Antwort, sondern drehte sich um, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Rhys rief nicht nach ihr in dieser Nacht. Was auch immer Dr. Wade ihm gegeben hatte, es genügte, um ihm nicht nur Ruhe, sondern Bewußtlosigkeit zu schenken. Hester hatte keine Ahnung, wie lange er wach gewesen war, als sie die Glocke zu Boden fallen hörte. Es war bereits taghell.
Rhys sah sie mit weit aufgerissenen, verängstigten Augen an. Sie trat ein und setzte sich auf sein Bett.
»Sagen Sie es mir noch einmal, Rhys«, begann sie leise.
»Haben Sie Ihren Vater getötet?«
Er schüttelte langsam und ohne sie dabei aus den Augen zu lassen den Kopf.
»Und es war auch kein Unfall?« drang sie weiter in ihn.
»Haben Sie vielleicht mit ihm gekämpft, ohne in der Dunkelheit zu erkennen, wer er war?«
Er zögerte, dann schüttelte er den Kopf. Ein Ausdruck des Grauens trat in seine Züge, er hatte die Lippen zurückgezogen, sein Kiefer war starr, und seine Halsmuskulatur zuckte.
»Konnten Sie etwas erkennen, in dieser Gasse?« fragte sie, denn die Beweise, die Evan vorgelegt hatte, ließen sie nicht los.
»Wenn jemand sich Ihnen genähert, Sie angegriffen hätte, sind Sie sich sicher, daß Sie ihn erkannt hätten?«
Er machte eine seltsame, ruckartige Bewegung. Wenn er seiner Stimme mächtig gewesen wäre, wäre es vielleicht ein Lachen gewesen, ein bitteres, selbstzerstörerisches Auflachen. Die Dinge, die er wußte, bargen irgendeine schreckliche Ironie, und er konnte es ihr nicht erzählen.
»Konnten Sie etwas sehen?« fragte sie noch einmal. Er sah sie reglos an.
Es gab so viele Fragen. Verzweifelt dachte sie darüber nach, welche die richtige sein würde.
»Wissen Sie, was in jener Nacht passiert ist?«
Er nickte und ließ sie nach wie vor nicht aus den Augen, obwohl sich seine Qual ihr so deutlich mitteilte, daß sie seine Verzweiflung spüren konnte, eine so große Verzweiflung, daß sie alles andere verzehrte und zerstörte.
»Rhys…« Sie legte die Hand auf seinen Arm und umfaßte sie mit festem Griff, so daß sie die Muskeln und Knochen unter ihren Fingern fühlte. »Ich werde Ihnen helfen, so gut ich es vermag, aber ich muß wissen, wie. Können Sie mir irgendwie sagen, was passiert ist? Sie waren dabei, Sie haben es gesehen. Wenn Sie gegen die Anklage gegen Sie angehen wollen, dann müssen Sie den Leuten etwas bringen.«
Sekundenlang erwiderte er einfach nur ihren Blick, dann schloß er langsam die Augen und
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